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Genuss: Wo die besten Artischocken der Welt wachsen

Genuss

Wo die besten Artischocken der Welt wachsen

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    Zart und edel – Artischockenknospen, die auf dem Markt in Venedig angeboten werden.
    Zart und edel – Artischockenknospen, die auf dem Markt in Venedig angeboten werden. Foto: stock adobe

    Auf Venedigs Laguneninsel Sant’Erasmo gedeiht im Frühling das Gemüse und eine ganz besondere Blüte: Von Ende April an und für nur wenige Wochen reift die Artischocke heran, deren erste violette Knospe eine einzigartige Delikatesse ist. Der Gemüsebauer Carlo Finotello macht dann die Runden durch seine sprießenden wehrhaften Geschöpfe. Hin und wieder biegt er die scharfkantigen graugrünen Blätter eines der Gewächse vorsichtig auseinander, um in das Innere zu schauen. Ganz unten, wie eine Frucht, schimmert die erste Knospe hellgrün und violett geflammt. Die Castraura.

    Castraura heißt die erste Blüte und ist eine regionale Spezialität

    So heißt die erste Blüte der Carciofo violetto, der violetten Art. Castraure sind die regionale Spezialität von Sant’Erasmo. Gerade mal vierzehn Gemüsebauern auf den Inseln Sant’Erasmo, Vignole und Lio Piccolo in der Lagune Venedigs bauen sie an und haben sich unter dem „Consorzio del Carciofo violetto di Sant’Erasmo“ zusammengefunden, um die Herkunft der lokalen Pflanze zu schützen. Slow Food war von Anfang an dabei. Die Castraura liebt den feuchtwarmen Frühling und den salzigen Lehmboden auf den Laguneninseln. 

    Carlo Finotello, der Gründer des Konsortiums auf Sant’Erasmo, beugt sich tief über eine der Blüten und schneidet sie vorsichtig heraus. „First Cut ist the deepest.“ Man denkt gleich an Rod Stewarts schmerzhaftes Liebeslied. Carlo Finotello kastriert die Pflanze gewissermaßen. Daher also der Name Castraure. Mit diesem Cut macht der Gemüsebauer aber auch Luft für die nachwachsenden Botoli, wie die zweite Ernte heißt. Die Artischocke kann sich weiter verzweigen und neue Triebe bilden. Die nachwachsenden Botoli sind runder und roter als die Castraure, aber auch weniger zart. Bis zu zwanzig Blüten kann die Pflanze davon treiben. 

    Das Aussehen wie Pralinen, den Preis einer Auster

    Die Castraure von Sant’Erasmo haben den Preis einer Auster und sind fast ausschließlich auf dem Rialto-Markt Venedigs zu finden. Wie wunderschöne leckere Pralinen sehen die grün-violett getuschten Knospen im langen, gezackten silbergrün geäderten Blattwerk aus. Man erkennt sie an der Banderole des Konsortiums. An Spitzenköche der Serenissima liefert Carlo Finotello die Früchtchen selbst aus. Ist die Ernte der Castraure beendet, bleiben nur noch die Mamme. Die gewöhnlichen Artischocken, die Mütter sozusagen, die viele von uns kennen, vor deren Zubereitung aber auch die meisten zurückschrecken. Für alle Artischocken gilt: Wer ihr Herz erobern will, braucht Geduld, Leidenschaft und echtes Interesse.

    Artischocken sind ein echtes Fingerfood

    Um eine ausgewachsene Artischocke zu plündern, kann man Messer und Gabel erst mal liegen lassen. Artischocken sind ein echtes Fingerfood. Zur Vorbereitung werden die manchmal ledrigen Spitzen ihres Panzers gekappt. Dann versenkt man sie in salziges und zitroniges Wasser und kocht sie je nach Größe und Frische etwa eine halbe Stunde. Inzwischen kann man einen Dip vorbereiten, in den stippt man die einzelnen nacheinander herausgezupften Schuppen der Artischocke mit ihrer fleischigen hellen Bruchstelle. Die kann man genussvoll (und geräuschlos) abschlecken. 

    Echte Genießer und Kenner sind geduldig, bis das im Heu noch verborgene Herz der Frucht sichtbar wird. Der Blütenboden muss natürlich weg und Messer und Gabel kommen zum Einsatz. Dann ist das Herz erobert und schmeckt einfach köstlich. Endlich ein etwas größerer Bissen. Der langsame und genussvolle Verzehr so einer Artischocke ist auch noch gesund wegen der Bitterstoffe, die sie birgt. Deshalb gilt sie seit jeher auch als Heilpflanze im Tee oder als Digestif. Schon die römischen Kaiser sollen sie geschätzt haben. Eine Zeit lang schrieb man ihr sogar eine aphrodisierende Wirkung zu. Cynara ist die wissenschaftliche Bezeichnung für die Artischocke, ganz so wie der Name der griechischen Nymphe, die in eine Artischocke verwandelt wurde, weil sie sich Zeus verweigerte. 

    Auf jeden Fall stammt die Frucht aus dem östlichen Mittelmeerraum, aus Nordafrika, Persien oder aus der Türkei, und die Araber brachten sie wahrscheinlich ins südliche Europa. Artischocken wachsen schon lange auch bei uns und sonst fast überall in Südeuropa. Die Trivialnamen Welschdistel oder Golddistel haben sich in Deutschland nicht durchgesetzt. Während in Venedig die Castraure eine ganze frühe Artischocke ist und andere Sorten im übrigen Italien zwischen Oktober und April geerntet werden, wächst die Artischocke bei uns den ganzen Sommer über. 

    Die Castraure sind so begehrt wie der First Flush beim Tee

    Die Castraure schafft es allerdings nie auf unsere Märkte, wohl aber andere junge violette Sorten, wie jetzt gerade. Die Castraure sind so begehrt wie der First Flush beim Tee oder die allererste Pressung feiner Oliven. Carlo Finotello und seine Ehefrau Cosetta servieren zu einem Glas Rotwein gern die rohe, fein geschnittene Beute mit Thunfischbröckchen, frischem Olivenöl und geschrotetem schwarzen Pfeffer. Wenn Cosetta Zeit hat, backt sie die Knospen auch mal in einer Eihülle aus. 

    Wenn auf Sant’Erasmo die Artischockensaison zu Ende geht und auch die Mamme geerntet sind, dann stirbt das Grün der Pflanze ab, es wird braun und treibt im Herbst neu aus. Diese frischen Triebe werden dann als Kardy, als bleiches Wintergemüse gezogen. Die Stängel sind butterzart, saftig und delikat, hat man sie mal von ihrer faserigen Haut und den Blattresten befreit. Auch geschmort sind sie ein Vergnügen oder roh in den Salat geraspelt. Die Kardy, auch Karde oder Kardone genannt, gehört ebenfalls in die Distelfamilie und gilt als wilde Verwandte der populären Artischocke.

    In der Schweiz ist die einjährig wachsende Kardy längst ein Blattstilgewächs für Kenner und schmückt sich mit einer geschützten Herkunftsbezeichnung. Im September wickeln dort die Gemüsebauern auf dem Acker die Stämme in Sackleinen, damit sie schön bleich bleiben und ihre Konsistenz bei der Ernte fast zerbrechlich scheint. Ihre Stängel enthalten wie auch die Artischocken den Bitterstoff Cynarin. Ansonsten sind sie den Spargeln ähnlich.

    Der Dichter Pablo Neruda widmete der Artischocke sogar ein Gedicht

    Yotam Ottolenghi, der israelisch-britische Koch und Kochbuchautor mit Basis in London, hat natürlich auch die Artischocke für sich entdeckt. Er halbiert sie, reibt die Schnittstellen mit Zitronensaft ein, entfernt das Heu und füllt die entstandenen Vertiefungen mit allerlei Kräutern und Zwiebeln, bindet sie wieder zusammen und gart sie erst dann in reichlich Salzwasser mit Zitronensaft bei Niedrigtemperatur. Als Beilage gibt es junge Erbsen mit Minze und Olivenöl.

    Wunderbar schmeckt auch ein Risotto mit jungen geviertelten Artischocken oder im Ofen gebacken mit Anchovis, Knoblauch und selbst gemachtem Petersilienöl. Die Artischocke, egal welche Sorte, ist sehr vielseitig, was die Zubereitung betrifft. Sie macht Köchinnen und Köche erfinderisch und vor allem ist sie nicht immer zu haben. Darum ist sie seit jeher noch begehrenswerter für Leckermäuler oder andere Verehrer wie den chilenischen Dichter Pablo Neruda, der ihr sogar ein Gedicht widmete: „Die Artischocke mit zartem Herzen / kleidete sich als Krieger . . . / und dann lösen wir Schuppe um Schuppe der Köstlichen ab und verzehren das friedliche Fleisch ihres zärtlichen Herzens.“

    Rezept für Riso al Forno ai Carciofi

    Ein Gericht, das sich beinahe selbst kocht. Weich, dampfend, an den Rändern knusprig – so einfach kann es sein.

    Kleine Artischocken (z. B. Petit Violets oder Carciofi Spinosi di Sardegna) Risotto-Reis (z. B. Carnaroli) Parmigiano Reggiano Knoblauch Petersilie Zitrone Olivenöl Extra Vergine

    Dieses Gericht ist beinahe eine Art Ofenrisotto, nur ohne Umrühren. Es ist genial einfach, schnell gemacht und wärmt so schön von innen, dass man es morgen gleich noch mal machen will.

    Die Stiele der Artischocken ein paar Zentimeter unter den Köpfen abschneiden und die äußeren Blätter so weit entfernen, bis nur noch die hellen, zarten inneren übrig bleiben. Dann mit dem Messer möglichst dünn alles herunterschneiden, was noch dunkelgrün und hart ist. Die Artischocken je nach Größe halbiert oder geviertelt in eine Schale mit Wasser und Zitronensaft geben. Es eignen sich auch sehr gut bereits vorbereitete Artischocken aus dem Rezept von Seite 50.

    Risotto-Reis in eine Auflaufform füllen, sodass der Boden vollständig davon bedeckt ist. Knoblauch, Petersilie und einen Hauch Zitronenschale fein hacken. Die Mischung mit dem Reis vermengen. Die Artischocken aus dem Zitronenwasser nehmen und in feine Scheiben schneiden. Auf dem Reis anrichten. Etwas salzen, geriebenen Parmigiano Reggiano darüberstreuen und alles mit Olivenöl beträufeln. Jetzt mit Wasser auffüllen, sodass der Reis gerade bedeckt ist. Im 220 Grad heißen Ofen zwischen 15 und

    20 Minuten backen, aber zwischendurch immer dann etwas Wasser nachfüllen, wenn es bereits vollständig verdampft scheint. Sobald der Reis gar ist und die Artischocken durch Öl und Käse fast knusprig und gut gebräunt sind, aus dem Ofen nehmen und servieren. Schmeckt auch köstlich später oder am nächsten Tag noch einmal im Ofen aufgewärmt, vor allem, wenn der Reis dann noch knuspriger gerät.

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    Das Rezept stammt aus dem Buch von Mercedes Lauenstein und Juri Gottschall: Splendido, Dumont, 368 S., 39 Euro. 

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