Mit Hilfe von KI bringen Sie bei Ihrer Lesereise zum Roman „Helden“ im Frühjahr 2025 Figuren wie den Protagonisten Jacop auf die Leinwand. Waren Sie von den Möglichkeiten der KI selbst überrascht?
FRANK SCHÄTZING: Absolut. Ich habe im Sommer angefangen, mit generativer KI zu arbeiten, Personen zu visualisieren und sogar perfekt zum Sprechen zu bringen. Es ist unglaublich, wie schnell sich diese Systeme entwickeln.
Kamen die KI-generierten Figuren Ihren Vorstellungen nahe?
SCHÄTZING: Ja, wobei meine Vorstellungen nicht übereinstimmen müssen mit denen der Leserinnen und Leser. Für mich war relativ klar, wie meine Protagonisten aussehen. Dann aber ein System, das nicht die mindeste Vorstellung vom Wesen der Dinge hat, dazu zu bringen, diese Figuren zu visualisieren, fand ich immens spannend. Wenn man lernt, KI zielgenau zu steuern, liefert sie erstaunlich präzise Ergebnisse, aber eben auch Umsetzungen, die man im Traum nicht erwartet hätte. Ich habe so lange herumexperimentiert, bis die Figuren meinen inneren Bildern nahe kamen oder die KI mir Vorschläge machte, die zwar davon abwichen, mir aber letztlich besser gefielen.
Und das machen Sie alles in nächtlichen Sessions am Rechner?
SCHÄTZING: Ja, das kostet sehr viel Schlaf und trägt einem dunkle Augenringe ein. Wenn man mit solchen Systemen arbeitet, vergeht die Zeit anders. Ich versuche seit Jahren, über das geschriebene Wort hinaus in meinen Live-Performances Romanwelten lebendig werden zu lassen, mit allen verfügbaren Mitteln. Sei es, dass ich Soundtracks schreibe oder Filme drehe. Bei einem historischen Stoff kann man allerdings nicht auf konventionelle Art eben mal opulente Bilder schaffen, da bot es sich an, mit KI zu arbeiten. Ich war verblüfft, wie gut das zum Teil aussah. Aber man muss intensiv mit den Systemen trainieren, und die Menge an Verwertbarem bleibt vorerst gering.
Ist das, was dabei entsteht, Kunst?
SCHÄTZING: Ja und nein. KI synthetisiert aus Bestehendem Neues. Aber genau das tun Menschen auch. Keine Künstlerin, kein Künstler erfindet das Rad ständig neu, sondern baut auf dem auf, was andere zuvor erschaffen haben. Wenn man so will, bedienen auch wir Kreativen uns fortgesetzt bei anderen, ohne sie zu fragen. Der wesentliche Unterschied ist, dass eine KI keinen Willen entwickelt, schöpferisch tätig zu sein. Menschliche Kreativität will etwas ausdrücken: Leid. Freude. Protest. Das ist unsere Bastion, das, was uns – noch – von Maschinen unterscheidet. Die Ansicht, KI könne keine Kunst erschaffen, ist überholt. Der Witz ist, sie kann es im Ergebnis, ist darum aber kein Künstler. Jedenfalls nicht, solange sie kein Bewusstsein und keine Absichten hat.
Sie sind bekannt dafür, sich gewissenhaft in die jeweilige Materie einzuarbeiteten. Auch ohne KI. Wie lange haben Sie gebraucht, um annähernd so zu denken wie Menschen des 13. Jahrhunderts?
SCHÄTZING: Das braucht eine ganze Weile. Es passiert, indem man sehr viel liest, sich mit Historikern unterhält, an Originalschauplätze fährt und versucht, so sehr es eben geht, sich in diese Welt hineinzudenken. Maßstab unserer moralischen Beurteilungen bleibt unser heutiger Wertekanon. Den abzustreifen und zu denken und zu werten wie ein Mensch des 13. Jahrhunderts, bedingt immense Detailkenntnis dieser Zeit. Etwa, indem man versucht, eine Stadt wie das mittelalterliche London bis ins Klitzekleinste zu durchdringen: Welche Berufsstände gab es, wie kochte und sprach man miteinander, wer machte den Dreck weg, was gehörte sich, was nicht. Je heimischer man dort wird, desto mehr denkt man wie ein Vergangenheitsbewohner.
Ein großer Teil Ihres Romans beschäftigt sich mit den Handelsbeziehungen zwischen Köln und England. Beschreiben Sie hier die Anfänge des Kapitalismus?
SCHÄTZING: Absolut. Es ist so: Im 12. Jahrhundert begann man, das Verhältnis Mensch-Gott neu zu definieren. Bis dahin hatte gegolten, dass der Mensch erbsündig an Körper und Seele sei, ohne Wahl und freien Willen. Jetzt sprachen die Kirchenväter die Seele von der Erbsünde frei. Das erweiterte den menschlichen Handlungsspielraum beträchtlich. Im 13. Jahrhundert fand es Ausdruck in einem beispiellosen Forschungs- und Reisewillen. Man wollte zu neuen Ufern, examinierte Gottes Werk, empfand sich selbst als schöpferisch. Einhergehend damit entstanden die großen Herrscherhäuser und ein Luxusmarkt. Der wurde vor allem aus dem Nahen Osten bedient, mit kostbaren Stoffen oder exotischen Gewürzen. Wir hatten unsererseits kaum Waren, die die von uns wollten. Also bezahlten wir sie mit Münzen. Geld wurde zum Massenzahlungsmittel. Innerhalb weniger Jahrzehnte explodierte in Italien das Bankenwesen: Bargeldloser Zahlungsverkehr, Kontokorrentkredit, Risikokapitalfinanzierung und Beteiligungsgesellschaften, all das hat seine Ursprünge im 13. Jahrhundert.
Sehen Sie Parallelen zwischen den Mächtigen von damals und den Mächtigen von heute, was Eigenschaften wie Moral und Durchtriebenheit angeht?
SCHÄTZING: Das damalige Spannungsfeld zwischen Macht und Moral ist mit dem heutigen durchaus vergleichbar. Bedingt durch die Geldwirtschaft wurde jetzt vieles nicht mehr durch das Schwert gelöst, sondern durch Diplomatie und Handelsbeziehungen. Wenn der Begriff Wandel durch Handel je eine Berechtigung hatte, dann zu dieser Zeit. Da dem Menschen Eigenverantwortung zugestanden wurde, kamen Moralgebäude auf den Prüfstand, bündelten zentralistisch geführte Reiche mehr Macht denn je. Alles wurde politischer. Auch die Durchtriebenheit.
Im Buch lassen Sie einen Kölner Mönch auftreten, für den Frauen nichts anderes sind als ein „Seidensack voller Dreck“. Wie sehr hat die Kirche im Mittelalter das Frauenbild geprägt?
SCHÄTZING: Sehr stark und leider negativ. „Seidensack voller Dreck“ ist ein wörtlich überliefertes Zitat. Die Predigten, die im Buch gehalten werden im Vorfeld des Auftritts der Artistin Adelinda Artemia sind allesamt O-Töne aus der Zeit. Es galt ja, dass Eva die Menschheit das Paradies gekostet habe, indem sie sich Gott widersetzte und vom Baum der Erkenntnis aß. Fortschrittliche Kleriker deuteten das später so, dass Eva gewissermaßen die Urmutter der Aufklärung ist. Ihr Biss in den Apfel war die erste Frage: Warum ist es, wie es ist? Für die Kirche war Eva die Verräterin und Verderberin. Der ideale Sündenbock, um einen männlichen Machtanspruch zu legitimieren und Frauen zu unterdrücken. Denn Männer hatten durchaus auch Angst vor Frauen und ihren besonderen Kräften.
Auf dem mit Hilfe von KI gestalteten Buchcover ist eine Frau mit einer Streitaxt abgebildet. Soll das die Söldnerführerin und Anarchistin Muirgheal sein?
SCHÄTZING: Genau. An dem Cover und der Buchrückseite habe ich zwei Wochen gearbeitet, bis Muirgheal so aussah, wie ich sie haben wollte, und die KI hat ein paar hübsche, unerwartete Details hinzugefügt.
Gab es im Mittelalter wirklich heldenhaft kämpfende Frauen wie Muirgheal?
SCHÄTZING: Zu Wikingerzeiten schon. Im Buch ist sie die letzte ihrer Art. Das verbliebene, wilde, ungezügelte, kreative weibliche Element des Chaos in einer durchchristianisierten Gesellschaft, wo die Rollen starr verteilt sind. Es galt, niemand könne seinem Stand entfliehen, die Ordnung sei von Gott gewollt. Muirgheal repräsentiert das Gegenteil. Sie wirkt wie ein Geist aus einer vergangenen Epoche relativer Gleichheit. Es gab aber auch sehr starke Frauen. Wir haben heute nur Aufzeichnungen männlichen Chronisten von damals vorliegen. So wissen wir, wie Männer die Welt sahen. Aber es gibt kaum Zeugnisse von Chronistinnen. Deshalb wissen wir wenig über die Gedankenwelt von Frauen im 13. Jahrhundert. Historiker gingen lange davon aus, Frauen hätten sich widerspruchslos in ihre Rolle gefügt, weil sie es nicht anders kannten. Also habe ich mich des Themas angenommen.
Und zu welchem Schluss sind Sie dabei gekommen?
SCHÄTZING: Dass Frauen alles andere als einverstanden waren. In Köln etwa gab es Unternehmerinnen, die Handwerksbetriebe mit Angestellten führten. Sie entschieden selbst, wen sie heirateten. In der bürgerlichen Mitte traf man oft auf starke, autonome Frauen, die ihren Lebensunterhalt verdienten, aber insgesamt war es für Frauen sehr viel härter als heute, sich ihren Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen. Im Hochadel war es fast unmöglich. Da erbte ein dreijähriges Mädchen Riesenländereien qua Geburt, wurde mit dem Thronerben eines anderen Herrscherhauses verheiratet, der im Zweifelsfall noch nicht geboren war, und damit gehörte ihr Land ihm. Und auch da gab es Unterschiede. Die Frau des französischen Königs Louis IX. etwa hatte nichts zu sagen. Die des englischen Königs Henry III. herrschte zeitweise uneingeschränkt.
Für die Menschen im Mittelalter waren Dämonen präsent, deswegen sind sie es auch in Ihrem Buch. Wie hat sich die Geister-Angst auf das Leben ausgewirkt?
SCHÄTZING: Zum einen wurde sie von der Kirche geschürt, weil man so dem Volk Angst machen und es kontrollieren konnte. Also genau, was die AfD auch tut. Deren Dämonen heißen EU, Migration. Zum anderen glaubte man, dass höhere Mächte miteinander im Krieg lagen und sich der Menschen bemächtigen, um diesen Krieg stellvertretend auszufechten. Man unternahm also alles, um Dämonen aus dem Alltag fernzuhalten, und lebte zugleich mit ihnen wie mit bissigen Hunden, denen man auf der Straße aus dem Weg geht. Die Metaebene war wichtig. Der Glaube an Gott, Teufel und Dämonen erleichterte es den Menschen, ihr Schicksal zu ertragen.
Zur Person
Frank Schätzing, 1957 in Köln geboren, ehemaliger Werbetexter, ist einer der meistgelesenen deutschen Autoren. Sein Bestseller-Thriller „Der Schwarm“ (2004) wurde vom ZDF als Serie verfilmt. Zuletzt erschien sein Sachbuch „Was, wenn wir einfach die Welt retten? Handeln in der Klimakrise“. Jetzt hat er eine Fortsetzung zu seinem ersten, 1995 erschienenen Roman geschrieben. „Helden“ setzt die Geschichte von Jacop, der Fuchs, fort. Im März begibt sich Schätzing auf Lesetour quer durch Deutschland, tritt unter anderem am 4. April in Nürnberg auf (Kleine Meistersingerhalle, 20 Uhr).
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