Alain Finkielkraut: "Die Frauen haben in jeder Hinsicht alles erreicht"
Der französische Intellektuelle rechnet in seinem neuen Buch mit dem Neo-Feminismus, #MeToo und dem Wokismus ab. Nach der staatlichen Zensur komme eine neue Form auf.
Herr Finkielkraut, in Ihrem Buch rechnen Sie unter anderem mit dem „Neofeminismus“ und #MeToo ab. Was hat das mit einer Abkehr von der Literatur zu tun, wie es der Titel suggeriert?
Alain Finkielkraut: Meinem Buch liegt die Beobachtung eines ideologischen Abdriftens der Gesellschaft zugrunde, durch die eine literarische Sichtweise der Welt allmählich verdrängt wird. Auch mich erschüttern die Berichte zahlreicher Frauen über Missbrauch und ungestrafte Gewalt, die zuvor totgeschwiegen wurde. Aber an die Stelle der Justiz ist ein Medien-Tribunal getreten. Eine berühmte französische Schauspielerin, Adèle Haenel, hat die sexuelle Belästigung durch einen Regisseur, als sie noch ein junges Mädchen war, angeprangert. Doch eine Klage lehnte sie ab, weil sie sagte, die Justiz höre Opfern wie ihr nicht zu. Dabei ist die Justiz eine große Errungenschaft der Zivilisation.
Aber das gilt doch auch für #MeToo, oder?
Finkielkraut: Bei #MeToo sind alle Erfahrungen gleichwertig – ein sexistischer Witz fällt unter dieselbe Kategorie wie eine Vergewaltigung. Es handelt sich um eine radikale Ideologie, die die Menschheit pauschal einteilt in jene, die dominieren und jene, die nicht dominiert werden wollen. Die Literatur hingegen nährt sich aus der menschlichen Vielfalt, der Besonderheit und Einzigartigkeit.
Viele Opfer gehen nicht vor Gericht, weil die Taten verjährt sind oder Beweise fehlen. Handelt es sich nicht um die berechtigte Kritik an einem System, das sexuelle Übergriffe und Gewalt toleriert?
Finkielkraut: Dieser Neo-Feminismus hintergeht den ursprünglichen Feminismus. Die Frauen haben in jeder Hinsicht alles erreicht. Kein einziger Beruf ist ihnen verwehrt. Heute gibt es Richterinnen, Diplomatinnen, oder Kriegsreporterinnen. Frauen können sich scheiden lassen, wenn sie wollen, sie sind finanziell absolut unabhängig. Bei uns im Westen gibt es das Patriarchat nicht mehr. Ich befürchte, dass der vermeintliche Kampf um Gleichberechtigung in Wahrheit ein Kampf um die besten Plätze ist. Die Männer sollen mehr und mehr weichen. Ich habe keinerlei Nachsicht für Machtmissbrauch und Gewalt durch Männer. Doch der Slogan dieses neuen Feminismus lautet: Wir glauben euch. Manche Feministinnen gehen sogar so weit zu behaupten, dass die Unschuldsvermutung eine Beleidigung der Opfer sei, weil sie aus ihnen mutmaßliche Lügnerinnen macht.
Ist die absolute Gleichberechtigung denn wirklich erreicht? Frauen und Männer haben nicht dieselben Posten, nicht dieselben Gehälter, verbringen nicht gleich viel Zeit mit dem Haushalt oder mit der Kinderbetreuung. Ist dies nicht auf patriarchale Strukturen zurückzuführen, die weiterleben?
Finkielkraut: In meinem Umfeld sehe ich das jedenfalls nicht. Die heutige Gleichberechtigung wurde hart erkämpft. Wir befinden uns am Ende eines Prozesses, den schon der Politiker Alexis de Tocqueville im 19. Jahrhundert analysiert hat: die Gleichstellung innerhalb der Familie. Paare handeln die Aufgabenverteilung im Haushalt miteinander aus. Wenn eine Frau in Frankreich heute laut sagt, dass sie Hausfrau und Mutter ist, wird sie schief angesehen. Dabei ist das vielleicht ihre persönliche Entscheidung. Früher war das ein Schicksal. Das ist zum Glück nicht mehr der Fall.
Denken Sie, man verurteilt andere schneller als früher? Oder nicht mehr für dieselben Dinge?
Finkielkraut: Tocqueville sprach auch von der Kraft des demokratischen Prozesses. Die Demokratie ist zum einen eine Regierungsform und zum anderen ein Prozess der permanenten Emanzipation und Gleichstellung. Heute gibt es eine klare Tendenz, diesen Prozess zu übergehen. Das ließ sich im Fall der Homo-Ehe beobachten, die vor zehn Jahren in Frankreich eingeführt wurde. Viele Menschen lehnten sie ab, weil für sie der Sinn der Ehe in der Gründung einer Familie besteht, und schlugen vor, den Homosexuellen alle Rechte zu geben, außer eben das Recht auf die Ehe. Sie werden bis heute verunglimpft als reaktionär als prähistorische Wesen. Dabei hatte die Diskussion ihre Berechtigung. Doch Debatten sind nicht mehr erlaubt, wenn die Welt nur noch aus jenen, die alles besser wissen, und jenen, die angeblich Überlebende einer vergangenen Welt sind, besteht. Der Demokrat ist bescheiden, sagte Albert Camus. Er weiß, dass er nicht alles weiß. Der Demokrat hingegen, der den Prozess übergeht, glaubt, dass er alles weiß.
Sie kritisieren auch den Wokismus, eine Bewegung aus den USA, die sich auf manchmal umstrittene Weise gegen Diskriminierungen stark macht.
Finkielkraut: Wie können sich Regisseure am Theater heute erlauben, frühere Werke nach Gutdünken zu aktualisieren? Sie glauben, dass sie mehr über die menschliche Welt wissen als deren Autoren. Diese Art der Selbstgefälligkeit, die unsere Zeit charakterisiert, macht die Literatur beliebig. Sie wird korrigiert, ob es um Mark Twains „Abenteuer des Huckleberry Finn“ geht oder um Werke von Agatha Christie. Das Umschreiben eines Werks sollte eine einhellige Empörung in diesem Land mit seiner humanistischen Tradition auslösen. Wir haben uns der staatlichen Zensur entledigt, um eine neue Form der Zensur aufkommen zu lassen.
Haben Sie kein Verständnis dafür, dass sich Schwarze durch das N-Wort, das unter anderem in Werken von Agatha Christie vorkommt, verletzt fühlen?
Finkielkraut:
Nein. Ein Teil der europäischen Literatur ist vom Antisemitismus geprägt. Doch werde ich als Jude verlangen, das zu korrigieren, weil es meine Empfindsamkeit verletzt? Keineswegs! Diese Werke stehen da als das, was sie sind. Man braucht auch keine Fußnoten zur Erklärung. Wenn wir anfangen zu zensieren, werden wir kein Ende finden. All das ist bezeichnend für eine Epoche, die glaubt, dass sie mit der Ablehnung aller Formen des Ausschlusses die Lösung für das Problem der Menschheit gefunden hat. Doch niemand hat die Lösung.
Auch Frankreich befindet sich in der Krise angesichts der andauernden Proteste gegen die Rentenreform und einer allgemeinen Politik-Verdrossenheit. Wie schätzen Sie diese Situation ein?
Finkielkraut: Ich verstehe nicht, was in meinem Land vor sich geht. Beim Schlagen auf Kochtöpfe bei Auftritten von Politikern verschlägt es mir die Sprache. Mir erscheint die Wut auf die Rente mit 64 unverhältnismäßig und mir ist nicht wohl dabei, Gymnasiasten oder Studenten zu sehen, die sich in dieser Bewegung engagieren, noch bevor sie ihren Beruf gewählt haben. Und all das während vor unserer Tür ein furchtbarer Krieg tobt. In diesem Pseudo-Engagement liegt eine Art der Gleichgültigkeit gegenüber den echten Herausforderungen der Welt und auch Frankreichs. Wir haben große Probleme wie den Verfall unserer Schulen oder die Unfähigkeit, die Einwanderung zu kontrollieren. Das führt zu einer demografischen Verschiebung mit einem Klima in manchen Vierteln, das fast einem Bürgerkrieg gleicht.
Sehen Sie ernsthaft die Gefahr eines Bürgerkriegs in Frankreich?
Finkielkraut: Es kann zu einem Zivilisations-Schock kommen. Für zwei Typen von Personen sind alle Menschen heute austausch- und ersetzbar: für die Linksextremen und die Firmenchefs. Die Unternehmer wollen immer mehr Einwanderer, um Arbeitsplätze zu besetzen. Für die extrem Linken gilt dasselbe: keine Grenzen. Ob Sie Franzose, Deutscher oder Malier sind, ist demnach unwesentlich, weil es keine kulturelle Verankerung gibt. Wenn man keine Unterschiede mehr macht, führt das zum Nihilismus und letztlich zur Barbarei.
Auch in Deutschland befürwortet die Wirtschaft Einwanderung, weil Fachkräftemangel herrscht. Ist das so verwerflich?
Finkielkraut: In Malmö in Schweden dachte man das auch und jetzt gibt es dort keinen einzigen Juden mehr. Malmö, die drittgrößte schwedische Stadt, ist sozusagen „judenrein“. Das führt zur Spaltung von Ländern.
Die Aussichten erscheinen wenig rosig. Würden Sie sich selbst als Pessimisten bezeichnen?
Finkielkraut: Ich habe nicht vollkommen jede Hoffnung verloren. Aber wenn ich mir ausmale, wie Frankreich, Deutschland, Europa in 50 oder 100 Jahren aussehen, gibt es keinen Grund zu denken, dass es besser sein wird als heute.
Zur Person: Alain Finkielkraut, 1949 in Paris geboren, gilt als einer der einflussreichsten französischen Intellektuellen. Er hat Philosophie und Ideengeschichte am Institut Universitaire Elie Wiesel und an der Elitehochschule École Polytechnique, moderiert eine Sendung auf France Culture und gründete 2000 zusammen mit Benny Lévy und Bernard-Henri Lévy in Jerusalem das „Institut d‘études lévinassiennes“, das inzwischen in Paris sitzt. Seit 2014 sitzt er in der Gelehrtengesellschaft Académie française. Zu seinen Hauptwerken gehören „Die neue Liebesunordnung“, „Die Niederlage des Denkens“ und „Der Verlust der Menschlichkeit“.
Sein jüngstes Buch „Vom Ende der Literatur. Die neue moralische Unordnung“ (mit einem Vorwort von Harald Martenstein) ist nun in deutscher Sprache im Langen Müller Verlag erschienen.
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