Startseite
Icon Pfeil nach unten
Kultur
Icon Pfeil nach unten

Interview: Donna Leon: "Für mich ist Sprache das faszinierendste Spielzeug, das es gibt"

Interview

Donna Leon: "Für mich ist Sprache das faszinierendste Spielzeug, das es gibt"

    • |
    Unterhaltung und Ernst sind für Donna Leon keine Gegensätze in der Literatur.
    Unterhaltung und Ernst sind für Donna Leon keine Gegensätze in der Literatur. Foto: Sebastian Willnow, dpa

    Frau Leon, sind Sie eigentlich eine disziplinierte (Donna Leon beginnt zu lachen) Schriftstellerin?
    DONNA LEON: Nein, gar nicht. Mit Disziplin kann ich überhaupt nichts anfangen, aber ich mache meine Hausaufgaben. Denn ich habe gelernt, dass ich erst raus zum Spielen darf, wenn ich meine Hausaufgaben gemacht habe. Deshalb weiß ich, dass ich erst hinaus auf einen Kaffee oder zu einem Spaziergang kann, wenn ich an dem Buch, an dem ich gerade arbeite, etwas gemacht habe.

    Wenn Sie an einem neuen Fall zu schreiben beginnen, wo fangen Sie an?
    LEON: Auf der ersten Seite. Ich fange immer auf der ersten Seite an, und ich habe keine Ahnung, was auf der zweiten Seite stehen wird oder auf der dritten oder auf Seite 300. Es ist ein Abenteuer, und je mehr ich schreibe, desto besser verstehe ich, was passiert sein müsste oder passiert sein könnte. In der Regel findet auf den ersten 50 Seiten eine Art Verbrechen statt, und sobald ich dieses Verbrechen habe, ergibt sich automatisch eine Vielzahl an Orten, an die ich hin muss. Zu Beginn muss ich nirgendwo hin, denn da besteht noch keine Veranlassung dazu, einen bestimmten Weg einzuschlagen. Aber sobald etwas passiert ist, ist die Entscheidung gefallen, das Verbrechen muss aufgeklärt werden, und es kann unter Umständen viele Erklärungen dafür geben. Das ist das Phänomen des Verbrechens.

    Am Ende Ihres aktuellen Buchs, einer Text-Sammlung mit dem Titel „Ein Leben in Geschichten“, gibt es eine Liste: Was ich mag, was ich nicht mag. Bei den Dingen, die Sie nicht mögen, steht: Filme und Fernsehen. Die Verfilmungen Ihrer Bücher gehören zu den erfolgreichsten Sendungen im deutschen Fernsehen. Haben Sie je eine Brunetti-Verfilmung gesehen?
    LEON: Ja, ich habe zwei gesehen.

    Wie war das?
    LEON: Ich mag keine Filme. Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Nicht mögen, heißt ja nicht verabscheuen. Ich verabscheue Filme nicht, ich bin nicht gegen Filme - ich mag sie einfach nur nicht. So wie Erdbeereis. Ich mag kein Erdbeereis. Es schmeckt mir einfach nicht.

    Bei einer anderen Sache sind Sie strikt geblieben, und zwar, was die Übersetzung Ihrer Bücher ins Italienische betrifft. Die gibt es nicht. Dennoch lesen natürlich auch viele Italienerinnen und Italiener Ihre Bücher, nehme ich an?
    LEON: Natürlich. Viele meiner Freunde haben sie gelesen und mögen sie. Aber es interessiert mich gar nicht so sehr, ob sie ihnen nun gefallen oder nicht. Meine Frage an sie ist immer, ob es wahr ist, was ich schreibe? Ob das, was ich über Italien schreibe, stimmt? Und sie sagen: „Ja, es stimmt.“ Ich frage sie: „Ist es nicht anmaßend oder beleidigend?“ Und sie lachen und sagen: „Mein Gott, Donna, du musst doch nur lesen, was wir schreiben. Du musst doch nur lesen, was Italiener über Italien schreiben, über die Regierung und das System. Das ist viel schlimmer als alles, was du schreibst.“ Und selbst, wenn ich über die Abgründe schreibe, schwingt da ja doch immer mein unglaublicher Respekt und meine Liebe zu diesem Land und den Leuten mit.

    Aber Sie haben auch andere Erfahrungen gemacht?
    LEON: Ja. Ich hatte zwei Freundinnen, ältere Damen - vor 20 Jahren waren sie so alt, wie ich jetzt bin -, und sie haben mich damals beide, unabhängig voneinander, in derselben Woche angesprochen und mir vorgeworfen, ich würde lauter schreckliche Dinge über Italien sagen und schreiben. Und ich fragte: „Was habe ich denn geschrieben? Gesagt?“ Und sie: „In deinen Büchern steht, Italien ist voller Lügen und Korruption!“ Und ich fragte: „Welches Buch? Welche Stelle?“ Und sie: „In allen, in allen.“ Und dann haben sie irgendwann zugegeben, dass sie nur einen Artikel in einer italienischen Tageszeitung gelesen haben über dieses Phänomen - eine Amerikanerin, eine Nicht-Italienerin, die sich anmaßt, über Italien zu schreiben. Darum geht es natürlich letztlich, dass ich keine Italienerin bin und mich traue, über die Dinge zu schreiben, die nicht gut laufen in Italien. Ich will nicht verurteilt werden aufgrund von Artikeln, die Journalisten über mich schreiben. Ich will nicht in Italien sein und mich von Leuten beschimpfen lassen, die meine Bücher nicht gelesen haben.

    Vor ein paar Jahren sprach ich mit einer Schriftstellerin, die zugleich Literaturwissenschaftlerin ist. Ich erzählte, dass ich alle Brunetti-Fälle gelesen hätte und mich auf jeden neuen Fall freue, weil es für mich eine zugleich vergnügliche und intelligente Lektüre sei. Die Literaturwissenschaftlerin war vollkommen entsetzt und fragte mich, wie ich meine Lese-Lebenszeit mit Donna Leon verschwenden könne, das sei doch keine Literatur, das sei „Unterhaltung“. Literatur müsse ernst sein und anstrengend, und wenn sie unterhalten werden wolle, dann gucke sie Netflix.
    LEON: Welche Nationalität hatte sie?

    Deutsch.
    LEON: Ich glaube, das erklärt sich aus der Literaturgeschichte. Der Ursprung des englischen Romans ist schließlich die Komödie. Der Schriftsteller Henry Fielding war ein Komödiant, sein „Tom Jones“ ist ein sehr, sehr lustiges Buch. Jane Austen ist mitunter zum Totlachen, und Dickens natürlich auch. Wenn man mit der englischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts vertraut ist, dann entwickelt man eine andere Vorstellung von Literatur und hat einen anderen Anspruch an sie. Ich denke, viele Deutsche fühlen sich einfach nicht wohl mit der Vorstellung, dass ein ernstzunehmender Roman auch unterhaltsam sein kann. Weil sie der Ansicht sind, man dürfe nicht beides zwischen zwei Buchdeckel packen. Entweder ist es ernst oder unterhaltsam, E oder U. In der englischsprachigen Literatur weiß glücklicherweise niemand etwas von einer solchen Grenze. Gottseidank! (lacht)

    Im Vorwort zum aktuellen Buch schreiben Sie, dass das Allerbeste für Sie, das weitere Zusammensein mit Brunetti, seiner Familie und seinen Freunden ist, und die Möglichkeit, weiter von ihnen erzählen zu können. Gab es eigentlich auch mal eine Zeit, wo Sie gelangweilt waren von Brunetti und ihn vielleicht sogar loswerden wollten?
    LEON: Nein. Als ich das erste Buch schrieb, hatte ich ja keine Ahnung, was passieren würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es 32 Fälle geben könnte., aber ich glaube, dass ich, selbst wenn ich es gewusst hätte, auch nichts anders gemacht hätte. Ich wollte über jemanden schreiben, den ich auf Dauer interessant finden würde, weil mir schon klar war, dass ich viel Zeit mit dieser Person verbringen würde. Und zufälligerweise bin ich bei den Brunettis und ihren Freunden gelandet. Bei Leuten, die lesen, die lustig sind, ironisch, sarkastisch und kultiviert, und dreißig Jahre später bin ich immer noch mit ihnen zusammen. Sie sind wie meine Freunde. Denn meine Freunde sind auch Menschen, die viel lesen, die in der Welt der Worte zu Hause sind und arbeiten. Schriftsteller, Redakteure, Juristen, die sich mit Sprache beschäftigen. Für mich ist Sprache das faszinierendste Spielzeug, das es gibt - und das unterhaltsamste.

    Zur Person

    Donna Leon stammt aus New Jersey, USA. Ihre in Venedig angesiedelten Kriminalromane um Commissario Brunetti sind internationale Besetseller. Leon, die am 28. September 80. Geburstag feiert, lebt in der Schweiz.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden