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Kunst-Biennale: Venedig zwischen Kunst und Wirklichkeit: Zum Abschluss der Biennale

Kunst-Biennale

Venedig zwischen Kunst und Wirklichkeit: Zum Abschluss der Biennale

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    Säle wie die Biblioteca Nazionale Marciana öffnen sich anlässlich der Biennale in Venedig für Ausstellungen wie die des Künstlers Heinz Mack.
    Säle wie die Biblioteca Nazionale Marciana öffnen sich anlässlich der Biennale in Venedig für Ausstellungen wie die des Künstlers Heinz Mack. Foto: Felix Hörhager

    In diesem November ist die Lagunenstadt voll, so voll, wie schon lange nicht mehr. Vor allem an den Wochenenden drängen die Besucher aus aller Welt auf den Wasserbussen und in den Gassen zum Kunstgenuss ins Viertel Castello im Osten der Stadt. Für einen Biennale-Besuch muss man in diesen letzten Tagen – die Kunstausstellung endet am 27. November – vor allem eines mitbringen: Geduld. Vor vielen der Länderpavillons in den Giardini bilden sich von früh bis spät lange Schlangen. Der deutsche Pavillon, dessen Fundamente die Bamberger Künstlerin Maria Eichhorn teilweise freilegen lies, gehört nicht zu den Favoriten.

    Biennale in Venedig: Der südkoreanische Künstler Chun Kwang beeindruckt mit riesigen Papier-Objekten

    Glücklich ist, wer Zeit hat sich durch die Stadt treiben zu lassen, in der unzählige Ausstellungen zum meist kostenlosen Besuch einladen. Am Ende einer dunklen Gasse oder hinter einer unscheinbaren Tür erwartet den Spaziergänger überraschendes. Denn neben der Kunst beeindrucken vor allem auch die Ausstellungsorte, Paläste, Gärten, Galerien, Klöster und Kirchen - in die man auf diese Weise exklusiven Zutritt erhält. Wie der Palazzo Contarini Polignac am Canal Grande, in dem der südkoreanische Künstler Chun Kwang Young unter dem Titel „Times Reimagined“ „Zeiten neu gedacht“ riesige Papier-Objekte präsentiert.

    Die alle zwei Jahre stattfindende Biennale Arte in Venedig gilt weltweit als das älteste und nach der documenta in Kassel bedeutendste internationale Forum der zeitgenössischen Bildenden Kunst.
    Die alle zwei Jahre stattfindende Biennale Arte in Venedig gilt weltweit als das älteste und nach der documenta in Kassel bedeutendste internationale Forum der zeitgenössischen Bildenden Kunst. Foto: Felix Hörhager

    In einer Lebenskrise begann er vor dreißig Jahren aus traditionell hergestelltem koreanischen Hanji-Maulbeerpapier – es handelt sich natürlich um Altpapier aus Büchern – unzählige kleine Dreiecke zu falten und sie zu faszinierenden vielfarbigen Reliefs und riesigen Skulpturen zu formen. Obwohl die Objekte nicht extra für die Räume angefertigt wurden, ergeben sich scheinbar zufällig Parallelen. Die Struktur des abgelaufenen, schiefen und löchrigen Terrazzo-Boden im Erdgeschoss weist beispielsweise eine verblüffende Ähnlichkeit mit der reliefartige Oberfläche der Papiergebilde an den Wänden auf und lädt zum Nachdenken über Materie, Zeit und Raum ein.

    Die amerikanische Künstlerin Rachel Lee Hovnanian präsentiert in Venedig "Angels Listening"

    Etwas abgelegen und versteckt im armenischen Kultur- und Dokumentationszentrum im Garten des Palazzo Zenobio im Stadtviertel Dorsoduro befindet sich die Installation „Angels Listening“, „Engel, die zuhören“, der amerikanischen Künstlerin Rachel Lee Hovnanian. Sieben, in Bronze gegossene Engel mit zugeklebten Mündern umkreisen einen silbernen Beichtstuhl. Sakrale Musik ist zu hören. Die Engel laden die Besucher dazu ein, ihnen ihre Gedanken und Gefühle mitzuteilen. Wer will kann sie anonym notieren. Erstaunlich viele sind dieser Aufforderung nachgekommen. Diese Nachrichten werden dann auf große Kunststoffbanner geklebt und ebenfalls Teil der Installation. Die Bekenntnisse und Mitteilungen der Besucher aus aller Welt sind berührende und teilweise erschütternde Zeugnisse der gegenwärtigen Gefühls- und Gedankenwelten. Neben Liebeserklärungen, Danksagungen und Nonsens tauchen häufig die Sätze „Ich bin so allein“, „Ich habe Angst“, auf. Diese Sätze sind natürlich keine Kunst, sie sind wahr - und gerade das macht dieses Projekt so eindrücklich.

    Auf der anderen Seite des Canal Grande im Viertel Cannaregio setzt der kolumbianische Künstler und Turner-Preisträger Oscar Murillo ebenfalls auf Zeit-Zeugnisse. In der Scuola Grande della Misericordia präsentiert er unter anderem sein Projekt „Frequencies“, „Frequenzen“, das in Kooperation mit Schülerinnen und Schülern aus aller Welt entstanden ist. Seit 2013 stellt Murillo Schulklassen leere Leinwände zur Verfügung, die für sechs Monate in den Klassenräumen ausgelegt werden. Die Schülerinnen und Schüler können darauf ihre Spuren hinterlassen. Sätze, Notizen, Zeichnungen - was sie wollen. Tausende dieser Leinwände aus über 400 Schulen weltweit sind bereits entstanden und nach Ländern und Städten geordnet für die Besucher einsehbar. „A storm is blowing from paradise“, „Ein Sturm zieht auf vom Paradiese“ - lautet der Titel von Murillos Ausstellung und auch hier lässt ein Engel grüßen - Walter Benjamins „Engel der Geschichte“. 1940 beschäftigte er sich in seinem Text „Über den Begriff der Geschichte“ mit einem frühen Bild von Paul Klee, dem Angelus Novus, dem „Neuen Engel“, der für Benjamin im Angesicht des Ausbruchs des zweiten Weltkriegs zum „Engel der Geschichte“ wird. Er schaut in die Vergangenheit und kann seine Flügel nicht mehr schließen kann, da ihn der Sturm vom Paradiese her in die Zukunft treibt.

    Im Dogenpalast entwirft Anselm Kiefer ein düsteres Panoptikum der Zeiten

    Trümmer und Engel finden sich auch bei Anselm Kiefer in der Sala dello Scrutinio des Dogenpalasts, dem imposanten ehemaligen Wahlsaal. Über allem steht der Satz des italienischen Philosophen Andrea Emo „Questi scritti, quando verranno bruciati, daranno finalmente un po' di luce.“ - „Diese Schriften werden, wenn sie verbrannt werden, endlich etwas Licht ins Dunkel bringen.“ Verkohlte Bücher und leere Landschaften weisen den Weg in die Sala, in der Kiefer auf 800 Quadratmetern ein monumentales und düsteres Panoptikum der Zeiten entwirft, umgeben von den Wand- und Deckengemälden Tintorettos, Palma di Giovanes und Andrea Vicentinos, die den Ruhm der Serenissima zu Land und zu Wasser zeigen.

    Verwundert blinzelnd steht man schließlich wieder auf der berühmtesten Piazza der Welt im Abendlicht umgeben von Selfie-Sticks, flatternden Tauben, lärmenden Touristen, feilschenden Händlern und stummen, steinernen Engeln an den Fassaden - und ist sich, wie so oft in dieser Stadt, nicht ganz sicher, ob es sich um Kunst oder Wirklichkeit handelt. Das geplante Eintrittsgeld ab Januar 2023 wurde immerhin vorerst abgewendet, Venedig sei schließlich kein Museum, heißt es.

    Info: Die Ausstellung mit Werken von Anselm Kiefer läuft noch bis 6. Januar im Dogenpalast.

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