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Lesezeichen: Was hat die Literatur mit der Welt zu schaffen?

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Was hat die Literatur mit der Welt zu schaffen?

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    Sibylle Berg: engagiert an der Grenze zum Aktivismus.
    Sibylle Berg: engagiert an der Grenze zum Aktivismus. Foto: Jens Kalaene, dpa

    Warum lesen Sie, liebe Lesende? Zur Unterhaltung und Zerstreuung? Oder für die Erweiterung des Horizonts und ein tieferes Verständnis? Zum Ergötzen und Ergriffen-Sein also oder für Erkenntnis und Ereifern? Aber kann man das denn überhaupt so genau unterscheiden?

    Wie ein Kontrastmittel jedenfalls wirken da die neuen Romane von Sibylle Berg und Eckhart Nickel – und das obwohl die Schreibenden doch eine gemeinsame Tradition verbindet und das nun Geschriebene ein gerade klassischer Zugriff.

    Die beiden wurden mal zum Kern der deutschen Popliteratur gezählt, Hochzeit der (post)modernen Lebensgefühlsprosa, in der sich irgendwie auch Zeit und Gesellschaft spiegelten. Nickel als Gefährte von Christian Kracht und dandyhaft larmoyanter Mitautor von „Tristesse Royal“, Berg mit bitter-satirischer Verve etwa in „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ und geradezu als Gegenentwurf zu Alexa Hennig. Und im je neuen, hoch gelobten Roman der beiden nun steht eine Gruppe Jugendlicher im Zentrum, außergewöhnlich gebildete, ausnahmetalentierte junge Menschen, die gerade darum isoliert von der Gesellschaft stehen und diese dadurch bespiegeln. Und beide Romane sind zudem vom besonders prägnanten Schreiben des Autors und der Autorin geprägt. Bloß wo man damit landet, das könnte kaum unterschiedlicher sein.

    Nickel formuliert, als schriebe er an einem Roman des 19. Jahrhunderts

    Eckhart Nickel: stilbetont an der Grenze zum Manierismus.
    Eckhart Nickel: stilbetont an der Grenze zum Manierismus. Foto: F.A.Z./Jana Mai

    Davon zeugen schon die Titel. Sibylle Bergs „RCE“ steht für den Hashtag „RemoteCodeExecution“ und verweist damit auf die Welt des Internets und die Sphäre der Hacker – bei ihr sind Computer-Nerds die Heldinnen und Helden, und die Sprache ist von deren Jargon aufgeladen und wirkt ansonsten wie eine so wuchtig wie spielerische Analyse der wahrscheinlich weltbesten Bloggerin. Eckhart Nickels „Spitzweg“ dagegen referiert tatsächlich auf den Münchner Biedermeier-Maler dieses Namens – und nicht nur, dass dessen Werke unter anderem im gemeinsamen Interesse eines schrulligen Dreigestirns in der Abschlussklasse eines Gymnasiums stehen, auch der Autor formuliert mit einem Kunstwillen, als schriebe er an einem Roman des 19. Jahrhunderts. Sogar die Hinweise, dass es sich tatsächlich um ein Geschehen in der Jetztzeit handelt, bringt Nickel am liebsten verkleidet unter, so heißt die Lieblingsband des Erzählers Vampirwochenende statt Vampire Weekend. Albern?

    Ist das jedenfalls so gar nicht, was die demnächst 60 werdende Wahlschweizerin liefert. Die groß angelegte Hacking-Aktion der Jugendlichen (zu denen auch die ihres letzten Romans „GRM“ gehören) erscheint als letzte Chance, so etwas wie einen Untergang der Welt zu verhindern, nachdem diese vom entfesselten Kapitalismus und dessen Protagonisten in Besitz genommen und geplündert worden ist.

    Frontal geht Berg die tatsächlichen Personen an, ob Peter Thiel, Elon Musk oder Christine Lagarde und zeigt in stetig wechselnder Perspektive die Verheerungen im orientierungslosen und entsolidarisierten Dasein der Durchschnittsmenschen, die durch die fortschreitende Automatisierung immer überflüssiger und durch die allgegenwärtige Datenspeicherung immer kontrollierter und manipulierter werden. Und dieses fulminante Horrorszenario ist aus den heute bereits herrschenden Strukturen mit nur kleinen Weiterdrehungen entwickelt. Es ist die beste Form des engagierten Schreibens der Gegenwart, einer Literatur, die sich als entscheidender Resonanzraum der Wirklichkeit versteht und die Lesenden zwar auch durch die Erzählweise unterhält, aber vor allem aufklärt und zupackt. In diesem Programm wird Brechtpreisträgerin Sibylle Berg immer resoluter – und anstrengender als Lektüre.

    In "Spitzweg" zelebriert er die vollkommene Abwendung

    So wie Eckhart Nickel, in seiner Wirklichkeitsabwendung hier geradezu programmatisch wirkt. Hatte der Frankfurter, Jahrgang 1966, in seinem ersten Roman „Hysteria“ durch das Außerkontrolle-Geraten der gezüchteten Natur noch ein starkes, aufs Tatsächliche verweisende Bild gefunden, zelebriert er in „Spitzweg“ nun die vollkommene Abwendung: ein Hauch Romanze, ein bisschen Abenteuer um einen vermeintlichen Kunstraub, viel Gelehrten-Expertise über die Kunst, ein Tulpenroman quasi, ein für sich selbst plädierendes Kunststück.

    Mit dem Erzähler Nickels gesprochen: „Ich habe einmal gelesen, es sei die Aufgabe unseres Daseins, einen Mittelweg zwischen Schmerz und Langeweile zu finden. Also eine Balance herzustellen zwischen Entbehrung und Überdruss. Und dass es nur dadurch möglich sei, sich einen inneren Reichtum aus Geist und Empfindung anzulegen, der uns unabhängig mache von den Unbilden stumpfer Geselligkeit, wie sie die äußere Welt für uns bereithält mit der geistlosen Leere ihrer Zerstreuungssucht und der Verrohung ihrer Sinne bis zur Empfindungslosigkeit. Nur, wie sieht dieser innere Reichtum aus, wie und wo häufe ich ihn an?“ Hach, die wahre Kultur, sie braucht die Welt nicht …

    Bei Bergs Erzählerin heißt es: „Gut, also Kultur vermisste niemand, wusste auch kaum mehr eines, was das gewesen war, die Sachen, die in Theatern und Clubs und Kellerlokalen, in Bibliotheken, Buchhandlungen, Programmkinos, kleinen Galerien und illegalen Pop-up-Bars stattgefunden hatten. Es gab keine kleinen Nischen mehr oder Subventionen und keine Räume, die man bezahlen konnte. Der Markt hatte gesprochen, er hatte gesagt: ‚Kunst ist Erfolg, Erfolg gibt allem, was überlebt, recht, und sieh nur, was für eine tolle Plattform wir hier für dich gebaut haben. Du kannst was nachsingen oder was mit Titten machen. Oder Games oder Reise-Influencing. Stell deine Kunst hier rein, wir sorgen für Minizahlungen, und wenn du zu radikal wirst, ist dein Profil verschwunden.‘“ Ach, die Welt, sie braucht die Kultur womöglich bald nicht mehr.

    Die Bücher

    Sibylle Berg: RCE – #RemoteCode Execution. Kiepenheuer & Witsch, 704 S., 26 Euro

    Eckhart Nickel: Spitzweg. Piper, 256 S., 22 Euro

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