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Musik: 50 Jahre "Exile On Main Street": Warum die Stones noch heute bewegen

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50 Jahre "Exile On Main Street": Warum die Stones noch heute bewegen

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    Demnächst auf Europatournee und auch im Münchner Olympiastadtion: die Stones.
    Demnächst auf Europatournee und auch im Münchner Olympiastadtion: die Stones. Foto: Bob Self, dpa

    Vor genau 50 Jahren stand ein neues Album der Rolling Stones in den Plattenläden. Damals, im Mai 1972, fremdelten Fans und Kritiker zunächst mit „Exile On Main Street“. Sperrig, lärmig, ein wilder Stilmix, kaum radiotauglich, auf vier Plattenseiten nur eine mittelprächtige Hitsingle („Tumbling Dice“) – das Publikum hatte damit so seine Probleme. Aber im Laufe der Jahre schälte sich heraus: „Exile“ ist das beste Stones-Album. Weil es sperrig, weil es lärmig ist, weil es stilistisch die ganze Bandbreite der Band abdeckt, weil es sich nicht um kommerzielle Konventionen schert.

    Die späte, tief gehende Anerkennung erstaunt umso mehr, da die Entstehung von „Exile“ nicht von Kalkül, sondern Chaos geprägt war. Die Songideen klaubten sie teils tief aus der Vergangenheit zusammen, die Sessions in der berüchtigten südfranzösischen Villa von Keith Richards verliefen eher unerquicklich, von Drogen und Alkohol befeuert. Oder gebremst. Je nachdem.

    Zuletzt veröffentlichten die Stones keine bemerkenswerten Alben mehr

    Und doch: Mick Jagger bastelte aus dem Kuddelmuddel eine großartige Song-Sammlung. Besser sollte es später nicht mehr werden. Ja, „Some Girls“ (1978) gab noch mal ein starkes Lebenszeichen. Aber dann? Brachten die Stones keine wirklich bemerkenswerten Alben mehr heraus. Zuletzt veröffentlichen sie nur noch einzelne Songs, ansonsten polierten sie frühere Werke auf. Auch „Exile“ ist inzwischen in mehreren überarbeiteten Ausführungen zu hören.

    An diesem Freitag ist übrigens wieder mal ein „neues“ Album der Stones erschienen. Der Mitschnitt eines Auftritts in einem kleinen Klub in Toronto. Aufnahmedatum: März 1977. Eine komplette Langspielplatte mit tatsächlich neuem, eigenem Material veröffentlichten die Stones vor 17 Jahren. Und dennoch: Sie stehen immer noch mit an der Spitze der Unterhaltungsindustrie. Wenn sie sich nun noch einmal auf Europa-Tournee bemühen, werden die Stadien gut besetzt sein. Auch am 5. Juni in München.

    Der Ruhm der frühen Jahre hat überdauert

    Warum? „Time Is On My Side“, sang Mick Jagger 1964. Die Zeit ist auf meiner Seite. Tatsächlich, der Ruhm der frühen Jahre hat überdauert. Weil sich viele ihrer Songs als überraschend witterungsresistent erwiesen. Die fehlende „Satisfaction“ ist eben nicht nur ein Thema für Teenager. „You Can’t Always Get What You Want“ ist ein Kalenderspruch, dem alle Altersgruppen leidvoll zustimmen können. „Street Fighting Man“ wird es immer geben. „Sympathy For The Devil“ bleibt diskussionswürdig. Vom „19th Nervous Breakdown“ sind mehr Menschen denn je bedroht. „Paint It Black“ könnte unser Zukunftsmotto sein. Und das apokalyptische „Gimme Shelter“ taugt als Soundtrack für den Krieg in der Ukraine. Natürlich, einige Jugendsünden, von viel Testosteron und zu vielen Drogen genährt, haben sich überlebt. Männer, die den 80. Geburtstag vor Augen haben und sich ihrer Potenz rühmen – das kann schnell lächerlich werden. „Honky Tonk Women“, „Midnight Rambler“, „Miss You“ gehen gerade noch so als Museumsstücke aus einer anderen Zeit durch.

    „Brown Sugar“ möglicherweise gar nicht mehr. Für die USA-Tournee im vergangenen Jahr strichen sie das Stück, immerhin einer ihrer größten Hits, aus den Setlists. Die schwüle Fantasie über peitschenschwingende Sklavenhändler und ihre dunkelhäutigen weiblichen Opfer rief Kritikerinnen auf den Plan. Oder wie Keith Richards nonchalant registrierte: „Einige schwarze Ladys haben etwas gemurmelt.“ Man darf gespannt sein, ob beim Tournee-Auftakt am 1. Juni in Madrid der „Braune Zucker“ wieder angeboten wird.

    Die Stones haben es verstanden, ihre Musik auch optisch in Szene zu setzen

    Optisch dürfte auf den dreizehn Stationen der Tour in jedem Fall viel geboten sein. Die Stones sind auch deshalb so hartnäckig erfolgreich geblieben, weil sie früh verstanden haben, wie wichtig es ist, das musikalische Oeuvre spektakulär in Szene zu setzen. Stones im Stadion – das verspricht größtmögliches Spektakel. Die jeweils neuesten, größten Videoleinwände, aufblasbare Riesenfiguren, Flammenwerfer, Feuerwerke, ausfahrbare Brücken ins Publikum – seit den 90er Jahren sind die Auftritte als Angriff auf alle Sinne konzipiert.

    Damit einher geht auch ein Angriff auf die Geldbeutel ihrer Zuschauer. Die Stones sind die Vorreiter, wenn die Konzert-Branche in den Preis-Galopp verfällt. Bei der aktuellen Tour werden die billigsten Karten für rund 150 Euro angeboten. Nach oben gibt es (fast) keine Grenzen. Für etwa 800 Euro sitzt der Fan auf Plätzen mit dem Zusatz „VIP“ und darf einen entsprechenden Pass samt Schlüsselband als Souvenir mit nach Hause nehmen. Toll! Es könnte ein Andenken für die Ewigkeit sein. Schon vor 50 Jahren, als „Exile“ erschien, wurde darüber spekuliert, wie lange es wohl noch mit den nicht mehr ganz so jungen Rabauken weitergehen könnte. Mick Jagger und Keith Richards standen damals jeweils vor ihrem 30. Geburtstag. Waren also bald uralt. Aus Sicht der jugendlichen Fans.

    Womöglich sind die Stones auch nur Getriebene

    Die Vermutung, dass diesmal wirklich „The Last Time“ gekommen ist, liegt nahe. Im vergangenen Jahr starb Schlagzeuger Charlie Watts kurz nach seinem 80. Geburtstag. Es wurde spekuliert, dass die Rest-Stones die anstehende USA-Tournee nur aufgrund vertraglicher Verpflichtungen absolviert hätten. Dass Mick Jagger (wird Ende Juli 79), Keith Richards (wenn alles gut geht im Dezember 79) und Frischling Ronnie Wood (demnächst zarte 75 Jahre jung) mit dem neuen Schlagzeuger Steve Jordan auch noch mal Europa beschallen, widerspricht der These. Womöglich sind die Stones, bei aller Geschäftstüchtigkeit, doch auch nur Getriebene, für die der Ruhestand keine Option ist. Nach der Europa-Tour, sagt Keith Richards jedenfalls, wollen sie überlegen, wie sie eine neue Platte fertig bringen können.

    Sie werden sich beeilen müssen. Sechzig Jahre sind die Stones schon am Rollen, fünfzig Jahre liegt ihr künstlerischer Höhepunkt zurück. Aber letztlich spielen auch sie nur auf Zeit. Schon 1974 veröffentlichten sie einen Song mit dem einzig wahren Titel: „Time Waits For No One“ – die Zeit wartet auf niemand.

    Was Keith Richards über den Tod von Charlie Watts zu sagen hat, lesen Sie hier.

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