
Häusliche Gewalt im Corona-Lockdown: So ist die Lage im Landkreis Neu-Ulm

Plus Die Ausgangsbeschränkungen sind für Opfer häuslicher Gewalt oft ausweglose Situationen. Trotzdem werden phasenweise nur wenige Fälle bei der Polizei gemeldet. Wie es im Neu-Ulmer Frauenhaus aussieht.

Der coronabedingte Shutdown mit Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen trifft jeden Menschen empfindlich. Doch besonders schlimm ist es für Opfer häuslicher Gewalt – denn auch oder besonders jetzt nimmt die Anzahl der Fälle nicht ab.
Trotzdem melden sich während der aktuellen Ausgangsbeschränkungen weniger Betroffene bei der Polizei als zuvor, wie Petra Tebel, Beauftragte für Kriminalitätsopfer im Polizeipräsidium Schwaben Süd/West, sagt. Sie kennt das schon aus dem ersten Lockdown. Erst im Nachgang hätten sich viele Opfer häuslicher Gewalt gemeldet. So habe es im Landkreis Neu-Ulm noch im März 40 Anzeigen gegeben, im April waren es 32, im Mai 36. „Während der Beschränkungen ist es für die Betroffenen am schlimmsten. Sie stehen unter stärkerer Kontrolle, haben oft auch die Kinder und den Aggressor selbst ständig um sich und trauen sich dann nicht, die Polizei zu verständigen.“
Im November sanken die Zahlen nach Angaben des Polizeipräsidiums im Vergleich zum Vormonat bis unter das Jahresmittel, im Dezember stiegen sie jedoch wieder stark an. Im Vergleich mit den vergangenen Jahren sei diese Kurve aber unauffällig. Insgesamt über das ganze Jahr verteilt gab es im Landkreis Neu-Ulm 400 Anzeigen wegen häuslicher Gewalt. Nach einem Höchststand im Jahr 2018 (393 Fälle) sanken die Fälle zunächst auf 347 im Jahr 2019. 2020 stiegen die Zahlen also wieder an. Im benachbarten Landkreis Günzburg ist beispielsweise eher ein gegenläufiger Trend erkennbar, dort sind die Anzeigen über die Jahre gesehen rückläufig. Doch in vielen Fällen holen sich die Opfer niemals Hilfe.
Vermutlich gibt es auch im Landkreis Neu-Ulm deutlich mehr Fälle als angezeigt
Petra Tebel ist sich sicher, dass es in Wahrheit deutlich mehr Fälle gibt, insbesondere während der coronabedingten Beschränkungen. Laut einer Studie aus Mecklenburg-Vorpommern liegt die Dunkelziffer von häuslicher Gewalt bei 98,4 Prozent. Tebel vermutet, dass viele Opfer nicht sicher sind, ob sie bei der Polizei Gehör finden und wo sie gerade jetzt hinsollen. Denn viele Frauenhäuser seien überbelegt und man könne nicht einfach jemanden besuchen.
Vor Weihnachten hat die Polizei ein „Survival-Kit“, also ein Überlebenspaket, veröffentlicht, das sich in erster Linie an Aggressoren richtet. Darin gibt es Tipps, wie zu Gewalt neigende Menschen ihre Aggressionen in den Griff bekommen können, etwa durch Sport, alleine sein oder Meditation. „Grundsätzlich haben wir während des Lockdowns, so wie alle Beratungsstellen, das Problem, überhaupt an die Opfer heranzukommen. Da muss die Präventionsarbeit über soziale Medien, Fernsehen, Radio und die Presse stattfinden“, erklärt Tebel. Normalerweise gilt, dass der Täter von der Polizei der Wohnung verwiesen wird. Wo er dann hingehe, sei sein eigenes Problem. Das geht im Moment nicht, schließlich könne man nicht einfach zu einem Freund oder zu den Eltern.
Darum haben sich Betreiber von Hotels und Ferienwohnungen, die ja keine touristischen Gäste aufnehmen dürfen, bereit erklärt, Tätern oder in manchen Fällen Opfern für ein paar Tage Unterkunft zu gewähren. Mit triftigem Grund sei das erlaubt. „Und häusliche Gewalt ist ein sehr triftiger Grund“, sagt Tebel.
Häusliche Gewalt: Polizei versucht, bei den Tätern anzusetzen
Wenn der Aggressor dann von seinem Opfer getrennt sei, gelte ein Kontaktverbot, normalerweise für zehn Tage. In dieser Zeit könne der Geschädigte sich überlegen, wie es weitergehen soll. Man könne ein weiterführendes, gerichtliches Kontaktverbot erwirken oder eine Therapie mit dem Partner machen, manche wollten auch für die Kinder Hilfe vom Jugendamt anfordern.
Schwierig werde es, wenn es sich um psychische Gewalt wie Manipulation handle. Denn dann liege eigentlich keine Straftat vor. „Psychische Gewalt ist schwerer zu greifen als physische, aber das eine geht in den meisten Fällen sowieso einher mit dem anderen“, erklärt Tebel. Und: Nicht nur Frauen werden zu Opfern häuslicher Gewalt. In 20 bis 25 Prozent der gemeldeten Fälle sind die Männer die Geschädigten, wobei diese Zahl laut Tebel auch Situationen beinhalte, in denen sich die Partner nach einer Schlägerei gegenseitig anzeigen.
Werden der Polizei dann Gewalttaten gemeldet, greift das sogenannte Legalitätsprinzip. Das bedeutet, dass die Beamten verpflichtet sind, Ermittlungen einzuleiten, wenn sie Kenntnis einer Straftat erlangt haben – selbst, wenn das Opfer das nicht will. „Es ist also nicht möglich, dass sich beispielsweise eine Frau, die von ihrem Ehemann geschlagen wird, bei uns nur über ihre Möglichkeiten informiert und dann aber eine Anzeige ablehnt. Sobald wir wissen, dass eine Straftat vorliegt, werden wir aktiv.“ Darum werden Anrufer am Beratungstelefon der Polizei immer zuerst über die möglichen Konsequenzen ihrer Mitteilung aufgeklärt. „Wollen sie dann nicht so weit gehen, ihren Partner anzuzeigen, können sie sich immer noch an eine andere Interventionsstelle wenden.“
Eine dieser Stellen ist das Frauenhaus der Neu-Ulmer Arbeiterwohlfahrt, das für die Landkreise Neu-Ulm und Günzburg zuständig ist. Hier werden Frauen aufgenommen, die Opfer von körperlicher, psychischer, sexueller, struktureller oder ökonomischer Gewalt geworden sind.
Frauenhaus Neu-Ulm hat im Lockdown Schwierigkeiten
Im Frauenhaus machte man laut Leiterin Bettina Maruhn während der beiden Lockdowns die gleichen Erfahrungen wie die Polizei. Zwar habe sich die Anzahl der Hilfesuchenden erhöht, allerdings erst, als die Beschränkungen im Frühsommer aufgehoben wurden. Maruhn vermutet als Grund: „Während des Lockdowns fehlt der Zugang zu Hilfesystemen wie dem Jugendamt, Freundinnen oder Familie, der Schule oder Kindergärten.“
Doch die Pandemie hat nicht nur für erhöhte Nachfrage gesorgt, sondern auch die Arbeit der Helfer erschwert. „Wir mussten zusätzliche Räume für die Quarantäne, die vor der Aufnahme ins Frauenhaus notwendig ist, suchen und einrichten. Das und die zusätzlich notwendigen Tests machen die Arbeit mit der Frau schwieriger und zeitintensiver. Außerdem wurden die Bewohnerinnen gebeten, Weihnachten nicht mit Angehörigen zu feiern, sondern im Haus zu bleiben.“
Im gesamten Haus gilt die Maskenpflicht und öffentliche Verkehrsmittel sollen ausschließlich in dringenden Fällen genutzt werden. Für Schulkinder könne man nur sehr begrenzt Distanzunterricht ermöglichen, da die technische Ausstattung nicht vorhanden sei. Schwierig sei es außerdem, die Frauen beim Zugang zu verschiedenen öffentlichen Ämtern zu unterstützen, wie etwa dem Jobcenter oder der Familienkasse. „Mitarbeiter dort sind im Homeoffice und schwer zu erreichen, alles ist komplexer geworden.“ Gleichzeitig gelten aber auch weiterhin die grundsätzlichen Regeln des Frauenhauses: Um die Anonymität zu wahren, die die Frauen schützt, darf kein Besuch empfangen werden und die Nutzung von Smartphones ist nicht erlaubt. (mit cao)
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