
Roxy-Choreolab: Tanzen – auch wenn die Welt aus dem Takt gerät


Im Ulmer Roxy inszenieren vier Choreografen das große Scheitern. Die Collage ist eine Hommage an den Berblinger, den unglücklichen Flugpionier – und das Lebenszeichen einer Kunst, die Corona von der Bühne verbannt hatte
Wer an das Scheitern auf dem Tanzparkett denkt, dem tanzt kein Fred Astaire durch das Kopfkino. Stattdessen melden sich verdrängte Bilder zurück: Tanzkurs-Trauma. Erinnerungen an Trampelfüße, die auf kleinen Zehen lasten, an showartige Peinlichkeiten im Rampenlicht der örtlichen Dorfdisco. Oder auch: federleichte Tanzpartner, die mit dem ersten Schritt plötzlich zur Marmorsäule erstarren. Aber keine Sorge – auch Tanzprofis scheitern. Immer wieder, immer weiter. Zielrichtung: die unerreichbare Perfektion der Bewegung. Doch das tragischste Scheitern besteht für Tänzer wohl darin, ihre Kunst nicht zeigen zu können. Corona verbannte den Tanz von den Bühnen in ganz Deutschland. Rhythmische Bewegung zur Musik? Körper an Körper? Per Verordnung verboten. Doch die Bühnen öffnen sich wieder – auch für diese Sparte. Beim internationalen Tanzprojekt „Choreolab“ im Ulmer Roxy drehte sich nun alles um dieses Dilemma: scheitern, versagen, verlieren. Das Motto: „249 Choreografic Failures“ – 249 choregrafische Fehlversuche. Das Resultat fällt dann doch etwas kleiner aus – aber fein: Vier auserwählte Beispiele, wie man professionell und mit Taktgefühl scheitert.
45 Choreografen haben sich für das Roxy-Choreolab beworben
45 Bewerbungen von Choreografen aus 24 Ländern hatte die Fachjury gesichtet, sie pickten ihre Favoriten heraus. Die Gewinner hatten im Juli und August nun die Chance, in einer Woche voll intensiver Arbeit sich inspirieren zu lassen – von der Stadt Ulm. Vor allem aber von der Geschichte des Ludwig Berblinger, dem Jubilar dieses Jahres. Der Bruchpilot, der in die Donau plumpste. Ein mustergültig Gescheiterter feiert 250. Geburtstag.
Der Projektleiter Pablo Sansalvador übernimmt bei der Premiere zwei Rollen: Er ist der gewitzte Moderator des Scheitern-Abends – und selbst Choregraf. Der Spanier aus Ulm tanzt mit seinem Stück aus der ästhetischen Komfort-Zone heraus. Kein schöner Tanz, keine Perfektion: „Jazzmusik = unzählige Fehlschläge“, so lautet der Titel. Was das Publikum erlebt, ist Körperkomik und Slapstick-Jazz. Ein Soundtrack beginnt, der gut zu einer Screwball-Komödie von Billy Wilder passen würde, und die vier – tatsächlich grandiosen – Tänzer des Abends rollen herein. Rollen? Sie kullern herein und turnen mit, auf, über und unter vier Autoreifen. Wie Autoscooter, nur in der Einradversion, rollen sie über die Bühne in der Werkhalle – und kollidieren auch nach allen Regeln der Kunst. Kostümiert mit roter Fliege oder auch im Pyjama, folgen sie einem chaotischen Spieltrieb. Für Sansalvador ist dieser kleine Zirkus ein Statement gegen die Perfektion. Plumpsen und stolpern – aber doch mit absoluter Körperbeherrschung.
Roxy-Choreolab: Tänzer litten unter den Corona-Abstandsregeln
Sansalvador fasst das Dilemma der Corona-Zeit zusammen: „Tänzer waren die ersten, die die Bühnen verlassen mussten – und sind die letzten, die wieder auf die Bühne zurückkehren.“ Es dauerte, bis Tanz auch in der Verordnung als Leistungssport anerkannt wurde – und wieder etwas Freiheit genoss.
Im Tanzen scheitern, aber „ohne in einen doppelten Misserfolg zu geraten“ – so versteht der französische Choreograf Axel Loubette seine Aufgabe beim „Choreolab“. Aufgabe heißt auf Englisch? „Task“. Und so lautet auch sein Stück, in dem ein Quartett der Perfektion hinterherjagt. Gesucht wird die richtige Bewegung zur richtigen Zeit am richtigen Fleck. Arme schlingen sich um Beine, ein Körper schlägt eine Rolle rückwärts über einen anderen Rücken. Ein Dritter taumelt für einen Wimpernschlag, zwei Partner fangen ihn – alles Absicht. Fünfmal, sechsmal, immer wieder proben sie dieselben Schritte. Ein Scheinwerferkegel zeigt sofort den nächsten Fleck auf der Bühne, an dem sie scheitern müssen. Am Ende fallen alle zu Boden, perfekt synchron. Halt – einer steht. Er streckt freudestrahlend den Zeigefinger in die Höhe – geschafft! Er blickt um sich. Bemerkt den – vermeintlichen – Fehler. Und legt sich peinlich berührt nieder.
Aina Lanas ist eine Teilnehmerin beim Roxy-Choreolab
Aina Lanas aus Spanien tauft ihr Stück „Herzklopfen“. Sie selbst habe die Dramen der Krise beobachtet: „Die Welt hat uns im Stich gelassen.“ „World failure“ nennt sie es – Weltversagen. Dieses mächtige Gefühl hüllt sie in eine elegante Ästhetik. Zuerst stampfen die Tänzer im Takt des Herzens, sie pendeln sich ein auf ein Tempo. Doch bald wiegen sie sich zu spanischen Mollklängen, wie unsichtbar verbunden zu einem Wesen, im Fluss der Bewegung. Lanas Stück erntet großen Applaus.
Die Tänzer lebten in Ulm als Mitbewohner, fast unter Quarantänebedingungen, in einer fremden Stadt. Sie hatten also Zeit, sich in Gedanken zu vertiefen. „Meine Choregrafie ist nicht autobiografisch, aber inspiriert von meinem Leben“, erklärt der Italiener Pablo Girolami. Und was er aus seinem Erfahrungsschatz hervorkramt, würde sich für eine Psychoanalyse anbieten: Versagen als Elternteil, als Partner, als Sohn. Daraus schöpft er eine Performance in Unterwäsche, die das Leben auf seinen skurrilen, halb nackten Kern konzentriert. Ein Püppchen mit überschminkten Lippen räkelt sich, während ein komischer Vogel sich in seinem Spiegelbild verirrt. Getragen wird diese Travestie-Mischung von einem Walzer von Schostakowitsch.
In Axel Loubettes Stück steckt das Fazit, all dieser beeindruckenden Scheiterarbeit mit Tanzschritten. Da heißt es: „Try again, fail again, fail better.“ Es immer wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.
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