
Vesperkirche in Corona-Zeiten: Mit Vespertüten gegen soziale Isolation

Am 13. Januar startet die Ulmer Vesperkirche. Wegen der Corona-Pandemie ist vieles anders als sonst. Wird die Aktion dauerhaft auf neue Beine gestellt?
Tischdecken, Kerzen, weißes Geschirr: Auf dieses Ambiente muss die Ulmer Vesperkirche in diesem Jahr verzichten. Bei der jährlich in der Pauluskirche stattfindenden Solidaritätsaktion können Bedürftige, aber auch alle anderen Menschen ein komplettes Menü für wenig Geld zu sich nehmen. Ziel ist es, dass Personen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten in Kontakt miteinander treten und Gemeinschaft erleben. Dieses Modell wird es aber im Januar und Februar 2021 wegen der anhaltenden Corona-Pandemie nicht geben.
Stattdessen werden vor dem Gotteshaus an der Ulmer Frauenstraße kostenlose Vespertüten von ehrenamtlichen Helfern verteilt. Zum 26. Mal veranstaltet die Gemeinde der evangelischen Pauluskirche die Vesperkirche in Ulm. Am Mittwochabend, 13. Januar, startet die Aktion mit einem Gottesdienst, die Vespertüten werden einen Tag später erstmals ausgeteilt. Das Angebot der Paulusgemeinde endet am Sonntag, 7. Februar.
„Es tut uns sehr weh, dass sich die Menschen im Rahmen der bald beginnenden Vesperkirche nicht wie gewohnt treffen und austauschen können“, sagt Peter Heiter, der Pfarrer der Paulusgemeinde. Es gehe nämlich um viel mehr als um eine warme Mahlzeit für wenig Geld. Begegnungen und Kontakt seien wesentlich für die Aktion, aber wegen Corona unmöglich. Peter Heiter ist es daher wichtig, den Gästen der Vesperkirche zu zeigen, dass sie gerade in dieser schwierigen Zeit nicht allein sind. Daher wird in jede der Vespertüten ein Zettel mit einer Art geistlichem Gruß gelegt. Auf den kleinen Schriftstücken sind auch Telefonnummern von Seelsorgern oder Pfarrern abgedruckt. So soll, wenn auch nur telefonisch, Kontakt ermöglicht und Menschen die Chance gegeben werden, aus ihrer sozialen Isolation zu treten.
Als Sicherheitsvorkehrung: Corona-Maßnahmen bei der 26. Ulmer Vesperkirche

Um eine Ausbreitung des Coronavirus während der knapp vierwöchigen Solidaritätsaktion zu verhindern, haben sich Peter Heiter und sein Team viele Maßnahmen überlegt. Beim Ausgeben der Vespertüten vor der Pauluskirche kümmern sich ehrenamtliche Helfer um das Einhalten der Mindestabstände in der Warteschlange. Markierungen am Boden sollen dabei helfen. An der Ausgabestation selbst werden Plexiglasscheiben angebracht und auch das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes ist Pflicht. Die rund 100 ehrenamtlichen Helfer werden darüber hinaus in Tagesteams eingeteilt. Jedes Team kommt viermal zum Einsatz, für eventuell erforderlichen Ersatz ist gesorgt.
Die meisten ehrenamtlichen Helfer der Vesperkirche sind Rentner. Peter Heiter bezeichnet sie als „Stammhelfer“, da viele von ihnen schon seit etlichen Jahren das kirchliche Projekt unterstützen. Das Problem: Die meisten der Ruheständler gehören allein wegen ihres Alters bereits zur Risikogruppe. Daher wurde beschlossen, dass Pensionäre mit Vorerkrankungen nicht bei der Verteilaktion mithelfen sollen. „Schweren Herzens wurde das von unseren langjährigen Helfern akzeptiert“, berichtet Heiter. Glücklicherweise meldeten sich aber einige junge Leute, die bei der Verteilung der Lebensmittel helfen wollen.
Vor der Pauluskirche in Ulm werden kostenlose Vespertüten verteilt
Grundsätzlich werden die Vespertüten von Donnerstag bis Sonntag zwischen 11.30 Uhr und 14 Uhr ausgegeben. Jede Tüte hat einen Wert von etwa zehn Euro und beinhaltet neben einem Getränk auch frisches Obst, Brot oder Brötchen, einen Nachtisch, ein zu erwärmendes Essen, eine Fisch- oder Wurstdose sowie Tee und Kaffee. Gleichzeitig gibt es auch eine vegetarische Variante. „Wir legen sehr viel Wert auf Qualität und wollen auch vermehrt faire Produkte integrieren“, erklärt Peter Heiter. Die Lebensmittel kommen von Firmen wie der Supermarktkette Rewe, Fruchthof Nagel oder von Bäckereien in der Umgebung. Wie viele der Vespertüten benötigt werden, ist aber noch unklar. Peter Heiter rechnet mit mindestens 100 Personen pro Tag. Es könnten aber mehr werden, da die Qualität der Produkte hoch sei und die Tüten kostenlos sind.
Deshalb ist die Vesperkirche auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Zum Großteil finanziert sie sich über Spenden, das allein reicht aber nicht. In Nicht-Corona-Jahren zahlen Bedürftige 1,50 Euro für ein komplettes Menü. Personen, die es sich leisten können, mindestens fünf Euro.
Ulmer Vesperkirche künftig komplett auf Spendenbasis?
Pfarrer Heiter ist froh, dass eine Verschärfung der Umsatzsteuer, die für 2021 geplant war und künftig auch kirchliche Einrichtungen betrifft, auf 2023 verlegt wurde. Von da an drohen der Vesperkirche aber entsprechende Zahlungen. Das Modell des karitativen Projekts könnte sich dahingehend ändern, dass die Tüten und Menüs dauerhaft umsonst angeboten werden und jeder Gast einen Betrag nach Wahl überreicht. Die Umsatzsteuer entfiele, da es sich nicht mehr um eine Bezahlung mit Gegenleistung, sondern um Spenden handeln würde. Peter Heiter hofft, dass gemeinsam mit den Finanzämtern eine passende Lösung gefunden werden kann. Der Geistliche betont: Es gehe ihm keineswegs um Trickserei, sondern darum, dass es sich bei den Bezahlungen der Speisen um Spenden für eine solidarische Aktion handelt. Falls es finanziell eng werden sollte, stünden aber Firmen und Privatpersonen bereit, um ein größeres Defizit auszugleichen.
Mehr Sorgen als der finanzielle Aspekt bereitet Peter Heiter momentan die Isolation vieler älterer Menschen. Gerade einsame Personen finden in der Vesperkirche normalerweise eine Plattform für den Kontakt mit anderen. „Mir blutet jedes Jahr das Herz, wenn die Vesperkirche endet, die Leute traurig sind und sich wünschen, dass es weitergeht“, erzählt der Pfarrer. Heiter schwebt die Vision einer „Vesperkirche plus“ vor, um dieses Dilemma zu beseitigen. Hierbei geht es um ein ganzjähriges Angebot. Angedacht ist es, ein- bis zweimal im Monat Vespertüten zu verteilen oder Besuchsdienste durch Ehrenamtliche zu organisieren. Die Vesperkirche müsse sich weiterentwickeln und noch stärker auf die einsamen Menschen zugehen, damit sich jeder Einzelne als Teil der Gesellschaft fühlt, findet der Pfarrer. „Wenn wir das erreichen, dann geht mir das Herz auf.“
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