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Bildung: 50 Jahre Sexualkunde in der Schule: Was hat sich bis heute geändert?

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50 Jahre Sexualkunde in der Schule: Was hat sich bis heute geändert?

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    So sieht Aufklärungsunterricht heute aus.
    So sieht Aufklärungsunterricht heute aus. Foto: Julian Stratenschulte, dpa

    Es klingt wie ein Countdown zur Apokalypse: „Jetzt liegt er auf den Tischen der Buchhändler“, titelte Die Zeit alarmiert. „Morgen soll er auf den Schulpulten liegen. Und übermorgen in den Kinderzimmern.“ Das Objekt des Grauens ist der Sexualkunde-Atlas – das erste Aufklärungsbuch für deutsche Schüler, das vor genau 50 Jahren auf den Markt gekommen ist: ein schlicht gestaltetes weißes Buch in Querformat und mit einem Bild in der Mitte, das auf den ersten Blick an ein Mandala erinnert.

    So sah der Sexualkunde-Atlas aus.
    So sah der Sexualkunde-Atlas aus. Foto: Renate-Berenike Schmidt/BZgA, dpa

    Die Darstellungen im Inneren waren weit expliziter – und einer der Gründe dafür, dass der Atlas in der Bundesrepublik so empört aufgenommen wurde. Die DDR war da deutlich weniger verklemmt: Sexuelle Bildung stand dort schon seit 1959 auf dem Lehrplan.

    Glaubt man den Quellen von damals, musste der Inhalt des Aufklärungsbuchs „bei jungen Menschen zwangsläufig zu Neurosen führen“. Das bundesweite Schülermagazin Underground bezeichnete den Penis nach der Lektüre des Sexualkunde-Atlas jedenfalls als „ekelerregendes Organ“. Hildegard Hamm-Brücher, damals Staatssekretärin im hessischen Kultusministerium und später Ministerin im Auswärtigen Amt, sagte über den Atlas: „Dieses Buch würde ich meiner 14-jährigen Tochter nicht in die Hand geben.“ Nicht wenige Biologen hingegen nannten den Atlas „hervorragend“.

    Umfrage: Lehrer sollten über Sexualität reden

    Heute finden zwei Drittel der Deutschen, dass Lehrer genauso wie Eltern das Thema Sexualität ansprechen sollten. Das hat das Forschungsinstitut Ifo herausgefunden. Am Sexualkunde-Unterricht herumgedoktert wird aber dauernd. In Bayern hat das Kultusministerium erst 2016 wieder die Unterrichtsinhalte verändert.

    Der Sexualkunde-Atlas machte Aufklärung ganz offiziell zur Aufgabe der Schulen – und die fremdelten am Anfang. Noch in den 50ern hatten vor allem Pfarrer oder Religionslehrer die Kinder eher verschämt als richtig aufgeklärt. Aber auch der Atlas hielt nicht, was sich viele Fans von mehr Offenheit erhofft hatten. Emotionen, Sex als Teil von Liebe – diese Punkte sparte das Buch der Bundeszentrale für gesundheitliche Ausbildung komplett aus.

    Was für eine Problembeziehung: Auf der einen Seite die Hippies, die freie Liebe lebten, auf der anderen die Klassenzimmer, wo für Gefühle absolut kein Platz war. „Wie eine Beschreibung aus unserer technischen Umwelt“ zeige der Sexualkunde-Atlas den „Vorgang der Menscherzeugung“, so schrieb Die Zeit. In den einzelnen Kapiteln würden „Produktionswerkzeuge gezeigt und beschrieben, die Entstehung des Werkstücks (des Babys!) in verschiedenen Phasen gezeigt“. Wer über Gefühle, Liebeskummer oder das eigene erste Mal reden wollte, musste sich an „Dr. Sommer“ aus der Bravo wenden. Von Homosexualität ganz zu schweigen – Beziehungen zwischen zwei Frauen oder zwei Männern gab es im Sexualkunde-Atlas einfach nicht.

    Konservative nennen Sexualkunde auch „Gender-Wahnsinn“

    Radikal-Konservative hätten das noch heute gerne so. Seit im neuen bayerischen Lehrplan in der 9. und 10. Jahrgangsstufe Homo-, Trans-, Bi- und Intersexualität thematisiert werden, protestieren Gruppen wie die AfD-nahe Vereinigung „Demo für alle“ gegen eine „Homo-Lobby“ und den „Gender-Wahnsinn“, der angeblich den Sexualkunde-Unterricht dominiert. Umstritten ist auch, dass Aufklärung schon in der ersten Klasse betrieben wird. Explizit ist da allerdings noch gar nichts, Kinder lernen nur die Unterschiede zwischen Frau und Mann.

    Auch 50 Jahre nach dem ersten Sex-Schulbuch streiten Lehrer, Eltern und Erziehungswissenschaftler über das richtige Maß zwischen Aufklärung und Überforderung. Barbara Thiessen, Professorin für Gendersensible Soziale Arbeit an der Hochschule Landshut, hat eine ganz klare Meinung: „Sobald Kinder entdecken, dass sie Geschlechtsorgane haben und dass diese unterschiedlich sind, stellen sie Fragen“, erklärt sie. Das täten sie schon im Alter von zwei bis drei Jahren. Ihr zufolge kommt es weniger auf den Zeitpunkt, sondern vielmehr auf die Art und Weise an, wie Lehrer das Thema Sexualität ansprechen.

    Thiessen hat festgestellt, dass an deutschen Schulen immer noch vor allem „technisch“ aufgeklärt werde. Alles andere müssten sich Schüler im Internet zusammengoogeln. „Da werden Jugendliche sehr allein gelassen.“ Seit den 1960er Jahren hat sich demnach nicht so viel geändert – obwohl der Sexualkunde-Atlas längst im Museum steht. (mit dpa)

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