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ADHS: Warum es ADHS nicht gibt

ADHS

Warum es ADHS nicht gibt

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    ADHS existiert nicht: Experte Richard Saul stellt in seinem Buch eine provokante These auf. Der Arzt fordert ein radikales Umdenken in Umgang mit Medikamenten.
    ADHS existiert nicht: Experte Richard Saul stellt in seinem Buch eine provokante These auf. Der Arzt fordert ein radikales Umdenken in Umgang mit Medikamenten. Foto: Frank Rumpenhorst, dpa

    Der Mann, der sich mit Ärzten, Eltern und der Pharma-Industrie anlegt, hat einen festen Händedruck, eine tiefe, sympathische Stimme und eine klare Botschaft. Die steht auch deutlich auf der amerikanischen Ausgabe seines Buches: „ADHD does not exist.“ Zu Deutsch: ADHS existiert nicht. Sie haben richtig gelesen: Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, an der hierzulande laut KiGGS-Studie angeblich fünf Prozent aller Kinder zwischen drei und 17 Jahren leiden, das Zappel-Philipp-Syndrom, gegen das tonnenweise Psychostimulanzien verschrieben werden und von dem viele Lehrer ein Lied singen – gibt es nicht! Sagt der US-Nervenarzt Richard Saul. Das soll uns der 78-Jährige erklären. Ein Treffen vor einem Jahr in Chicago.

    Der erste Satz Ihres Buches lautet: „Ich schrieb dieses Buch, um zu provozieren.“ Hat es geklappt?

    Saul: Bevor das Buch erschien, bekam ich viele kritische Mails wegen des Titels „ADHS existiert nicht“. Wie können Sie es wagen, das gibt es seit 100 Jahren, weiß doch jeder – das volle Programm. Wir hatten eine Protestwelle von Ärzten, die meinten: Das ist alles falsch – bevor sie das Buch gelesen hatten.

    Und was geschah danach?

    Saul: Nachdem sie Interviews von mir gehört und das Buch gelesen hatten, stimmten mir viele Ärzte zu. Darum geht’s mir in dem Buch: Es gibt mindestens 20 verschiedene Leiden, mit ähnlichen Symptomen: impulsiv, leicht ablenkbar, kurze Aufmerksamkeitsspanne, hyperaktiv – daher kann man nicht einfach alles ADHS nennen. Ich spreche von ADHS als „eine Sammlung von Symptomen, die mit dieser Diagnose assoziiert werden“ und nicht als eine Krankheit. Das Buch ist nicht in akademischer Sprache geschrieben, denn viele Leute sollen es lesen und meine These verstehen können. Vielleicht ändern sie dann ihre Meinung. Ich habe es besonders für Familien und Lehrer geschrieben und hoffe, dass sie sensibler mit ADHS-Symptomen umgehen. Sauls Buch liest sich wie eine medizinische Detektivgeschichte. Die Patienten kommen, schildern ihre Symptome, vermuten ADHS – der Arzt hakt nach, wägt alle Eventualitäten ab und findet eine andere Krankheitsursache. Diese intensive Suche nach der Diagnose nennt Saul Differenzialdiagnose. Nicht selten taucht am Ende eines Kapitels der Aha-Effekt auf: Wie? Was? Das störende Kind in der letzten Reihe, das die Lehrerin unter ADHS-Verdacht stellte, es war einfach nur kurzsichtig?

    Ist es wirklich manchmal so einfach? Schlafentzug, Kurzsichtigkeit, Drogenmissbrauch, Eisenmangel sind auch Gründe für ADHS-Symptome?

    Saul: (lacht) Ja, es ist so einfach. Aber neben den Blut- und den Gehirntests sind eben auch die richtigen Fragen wichtig. Man muss eine Differenzialdiagnose durchführen. Viele dieser Leute brauchen Medikamente, aber keine Stimulanzien. ADHS bei Erwachsenen: Wer es nutzt, ist zu Höchstleistungen fähig

    Als junger Arzt dachten Sie, ADHS gibt es. Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?

    Saul: Seit ich meine Praxis für Verhaltensneurologie geöffnet habe, habe ich so viele Patienten gesprochen. Als ich dann mal all meine Aufzeichnungen durchschaute, stellte ich fest: Von 5000 Patienten, die mit ADHS-Beschwerden zu mir kamen, brauchten zehn Prozent Stimulanzien und 90 Prozent brauchten etwas anderes oder gar nichts. Ich dachte mir, das ist ein guter Grund, ein Buch zu schreiben (lacht). Das, was die zehn Prozent haben, die wirklich Stimulanzien brauchen, nenne ich in dem Buch „neurochemische Störung“. Das ist das wirkliche ADHS.

    ADHS als Modeerscheinung?

    ADHS gilt als Modekrankheit des 21. Jahrhunderts. Um die Symptome zu kurieren, verschreiben Ärzte häufig den 1944 entdeckten Wirkstoff Methylphenidat, der das Gehirn stimuliert und eine ähnliche Wirkung wie Kokain hat. Bekanntestes Stimulanz-Präparat ist Ritalin. Allein im Jahr 2014 machte der Hersteller damit einen weltweiten Umsatz von 492 Millionen US-Dollar. Zwischen 1999 und 2013 stieg die Zahl der Methylphenidat-Verordnungen in Deutschland um 600 Prozent. 2013 wurden 56,7 Millionen Tagesdosen verschrieben. Bei Jungen wird ADHS vier Mal häufiger als bei Mädchen diagnostiziert.

    Die Realität sieht anders aus: Meistens wird ADHS als eine Krankheit diagnostiziert und nicht als eine Symptomsammlung gesehen.

    Saul: Ja. Als ich mal in eine Vorlesung für Medizinstudenten ging, wurde da über ADHS gesprochen. Es hieß: Man muss 20 Fragen stellen und wenn diese zu einem hohen Prozentsatz positiv beantwortet werden, dann ist es ADHS. Und ADHS-Behandlung heißt: Stimulanzien. Das ist das, was Ärzte an der Uni lernen. Bedenken Sie: In der Medizin gibt es kein anderes Leiden als ADHS, bei dem man einen Fragebogen aushändigt, nach dem eine Diagnose erstellt wird. Nicht eins. Das ist das große Problem.

    Warum ist das so?

    Saul: Die Liste wurde von der American Psychiatric Association in einem Fach-Journal herausgegeben. Die Pharmakonzerne dachten sich: Die Liste ist clever, wir verteilen sie gratis an die Leute und diese können dann die Ärzte um die Medikamente bitten. Also verbreiteten sich die Stimulanz-Medikamente rasant. Ein Beispiel: Vergangenes Jahr hatten wir eine Million neue Verschreibungen allein in den USA. Außerdem veröffentlichten die Medien die Liste und berichteten über ADHS. Nun weiß jeder ein bisschen darüber.

    Die Liste ist das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder, kurz: DSM. Der Leitfaden, nach dem sich viele Ärzte bei ihrer Diagnose richten …

    Saul: Ja, der große Feind. Ich mochte schon die alte Liste nicht, das DSM 4. Die neue, das DSM 5, sollte die alte eigentlich korrigieren. Aber sie haben sie verschlimmert. Statt wie bisher sechs positive Antworten braucht man jetzt nun nur noch fünf für eine Diagnose. Und ursprünglich musste man unter sieben Jahre alt sein, wenn die Diagnose zum ersten Mal gestellt wurde. Nun kann man älter sein – also mehr Betroffene. Das ist die falsche Richtung. Dies als einen Grund für eine Diagnose zu verwenden, ist nicht gut. Medizin ist nicht so schwarz und weiß. Es gibt sehr viel Grau.

    Ist ADHS sozial akzeptiert? Quasi: Lieber ADHS als eine Depression?

    Saul: Absolut. Sehr sozial akzeptiert. Sogar bis zu dem Punkt, dass Eltern von 15- oder 16-jährigen-High-school-Jungen zu mir kommen und sagen: Können Sie ihm bitte eine Stimulanz geben, sodass er besser in der Schule ist? Das Gleiche mit College-Kids. Sie kaufen das Zeug auf der Straße, weil sie meinen, dass es ihre Noten besser macht. Mein Mitbewohner während des Studiums nahm es ebenfalls, weil er lange fürs Lernen wach bleiben wollte. Dann dachte er mitten in der Nacht, dass er eine Herzattacke hätte, landete im Krankenhaus und verpasste den Test aus demselben Grund (lacht).

    Ihr Buch ist eine Kritik an Ärzten, weil sich viele von ihnen keine Zeit für die Diagnostik nehmen, Nebenwirkungen in Kauf nehmen und die Gesundheit ihrer Patienten riskieren würden. Sie schreiben von einer Epidemie an ADHS-Fehldiagnosen.

    Saul: Ich gebe Ihnen ein Beispiel. „Versuch dies, o.k., es wirkt nicht, versuch das.“ Ich nenne das: „Versuch dies, versuch das.“ Das ist ein schrecklicher Weg zu praktizieren. Die Theorie dahinter ist: Gib einem eine Stimulanz und das macht die Diagnose aus. Wenn’s hilft, hat er also ADHS. Ich würde sagen, zwei Drittel der Leute, die mich konsultiert haben, haben bereits erfolglos Medikamente genommen. Es findet immer das Gleiche statt: Sie nehmen es, es hilft für ein paar Monate, dann brauchen sie mehr und mehr, und am Ende sind sie krank von der Medizin. Das ist „Versuch dies, versuch das“. Vor etwa einem Monat kam ein neuer Patient zu mir. Seine Eltern sagten, sie hätten einen Psychiater in New York angerufen und ihm die Symptome geschildert. Er sagte: O.k., ich maile Ihnen ein Ritalin-Rezept. Sie probieren das aus und wenn es hilft, soll er es weiter nehmen. Falls es nicht besser wird, soll er zu mir kommen und ich sehe, was falsch läuft. Er tat dies, ohne das Kind gesehen zu haben. Die meisten Psychiater verwenden die „Versuch dies, versuch das“-Theorie. Das ist Unrecht und verrückt.

    ADHS-Diagnosen: Immer häufiger Kritik an Qualität

    Wie haben die Ärzte reagiert?

    Saul: Von diesen Ärzten habe ich nicht so viel gehört. Sie wissen, dass ich recht habe. Eine von ihnen erklärte mir mal: Die Anamnese benötigt eineinhalb Stunden oder mehr, die Bezahlung dafür ist dieselbe wie bei einer Halsentzündung. Ich kann es mir nicht leisten, mir eine Stunde Zeit dafür zu nehmen. Aber man braucht diese Zeit für eine Differenzialdiagnose.

    Welche Rolle spielt die Pharma-Industrie?

    Saul: Eine gigantische. Erst haben sie die kleinen Fragebögen verteilt. Sie kommen auch in die Praxen und wollen über die Produkte informieren. Sie nennen das Detaillierung. Werbegeschenke dürfen sie nicht mehr dalassen, aber sie dürfen zum Essen einladen. Ich erlaube das nicht. Also zahle ich für das Mittagessen meiner Angestellten, damit sie nicht das Freiessen annehmen, wenn die Pharmafirmen kommen. Und die kommen oft. Und sie machen viel Werbung in Ärzte- und Familienmagazinen.

    Inzwischen ist in Deutschland immer häufiger Kritik an der Qualität der ADHS-Diagnosen zu hören. Dass Kinder unter Drogen gesetzt und gefügig gemacht werden und der Griff zur Lieb-Pille allzu schnell geschehe. Der bekannte Familientherapeut Jasper Juul etwa meinte kürzlich in einem Interview, ADHS sei in vielen Fällen eine Folge professioneller Vernachlässigung von Seiten der Eltern. Zu großer Druck, zu viele Erwartungen. Einer ging noch weiter: „ADHS ist ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung“, sagte Nervenarzt Leon Eisenberg kurz vor seinem Tod im Jahr 2009. Obwohl er laut „Spiegel“ gestand, die Krankheit erfunden und zusammen mit dem Diagnose- Leitfaden DSM publik gemacht zu haben, ist ADHS nach wie vor die am häufigsten diagnostizierte psychiatrische Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen.

    Findet jetzt langsam ein Umdenken in Sachen Stimulanzien statt?

    Saul: Eines Tages. Nicht jetzt. Ich denke, viele Ärzte wissen in ihrem Inneren, dass es nicht richtig ist, was sie tun. Sie sehen das aber auch nicht als eine Vernachlässigung, obwohl es genau das ist. Eine Fachzeitschrift berichtete neulich darüber, Zweijährigen Ritalin – Ritalin! – zu geben, weil sie sich nicht benehmen. Tja, Zweijährige benehmen sich nun mal nicht! Das Hirn eines Zweijährigen formt sich noch. Ihm hirnaktivierende Medizin zu geben, ist das Schlimmste, was man machen kann. Das ist fürchterlich und entbehrt jeder Logik. Ich möchte nicht einmal einem Fünfjährigen Stimulanzien geben, was viele tun.

    In Ihrem Buch gehen Sie hauptsächlich auf medizinische Hintergründe von ADHS-Diagnosen ein. Was ist mit den psychischen Aspekten?

    Saul: Die Herausforderungen des Alltags können Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssymptome hervorbringen, die fälschlich für ADHS gehalten werden können. Scheidung scheint ein großes Problem zu sein, besonders für junge Kinder. Da gibt es erst viel Ärger und Streit, sie hören das alles. Dann ist Daddy plötzlich weg und die Kinder landen normalerweise in zwei Haushalten. Das andere große Problem sind das Internet oder die Computerspiele. Die Kinder gewöhnen sich daran. Wenn etwas dann nicht aufregend ist, können sie sich nicht konzentrieren. Sie haben dann aber kein ADHS. Sie können für zwei Stunden hoch konzentriert Computer spielen, aber Hausaufgaben sind nicht so aufregend wie das Spiel. Wir gingen als Kinder in den Wald, um Beeren zu sammeln, aus denen wir Tinte herstellten. Kinder von heute würden das nicht mehr tun – zu zeit- und arbeitsintensiv.

    ADHS ist also auch ein gesellschaftliches Problem. Manche Menschen halten dem Leistungsdruck nicht mehr Stand. Was sollte sich ändern?

    Saul: Das Bildungssystem sollte sich ändern. Es müsste mehr Spezialklassen für Schüler geben, die anders lernen oder mehr Zeit brauchen. Klassen, in denen Kinder am Schreibtisch stehen dürfen, wenn sie lesen sollen, anstatt sitzen zu müssen. Und die Sichtweise der Eltern sollte sich auch ändern. Im Moment ist es praktisch so: Wann können wir mit der Medizin loslegen? Mein Dreijähriger sitzt nicht still. Tja, Dreijährige sitzen nun mal nicht still! Warum machen sie nicht etwas mit ihm, bei dem er nicht still sitzen muss? Ein Teil der Elternsichtweise ist beeinflusst vom Bombardement der Pharmafirmen, der Familieninformationen, der Ärzte und jedem. Man sollte auch Berufsberatung geben. Wenn jemand nicht still sitzen kann, sollte er keine Telefonanrufe tätigen, sondern raus gehen und Leute treffen. Viele Kinder mit ADHS-Symptomen wären gute Verkäufer.

    Und im medizinischen Bereich?

    Saul: Da wird es keinen Wandel geben. Die Ärzte wissen vom Problem, aber ihre große Entschuldigung ist Zeit. Die Gefahr ist, dass es einen übermäßigen Gebrauch von Drogen mit all den Nebeneffekten gibt. Die ganze Gesellschaft bewegt sich in die Richtung einer Überstimulierung. Uns droht eine Gesellschaft von wandelnden Zombies.

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