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Missbrauchsskandal: Das Grauen auf dem Campingplatz von Lügde

Missbrauchsskandal

Das Grauen auf dem Campingplatz von Lügde

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    Die Durchsuchungen gehen weiter: Polizeibeamte der Spurensicherung vor der abgesperrten Parzelle von Andreas V. auf dem Campingplatz in Lügde.
    Die Durchsuchungen gehen weiter: Polizeibeamte der Spurensicherung vor der abgesperrten Parzelle von Andreas V. auf dem Campingplatz in Lügde. Foto: Guido Kirchner, dpa

    Nur einen Moment steht die Tür zum Tatort offen. Ein Moment, der für ein Foto reicht – und der einen Blick in die Welt eines Kindes freigibt. Eines Mädchens, das allem Anschein nach missbraucht wurde.

    30 Jahre lang soll Andreas V., 56, hier, auf dem Campingplatz „Eichwald“ in der Kleinstadt Lügde, gelebt haben. Zuletzt besaß der arbeitslose Junggeselle zwei Wohnwagen, von denen er einen mit mehreren Holzverschlägen umbaut hatte. Längst hängen die Dächer schief. Alte Leitern, vergammelte Zaunelemente und verrottete Gartenmöbel lehnen draußen an der Behausung, als wollten sie die Wände stützen.

    Lügde, das 6000-Einwohner-Städtchen am östlichsten Rand Nordrhein-Westfalens, ist seit Ende Januar zum Synonym für einen der spektakulärsten Missbrauchsfälle in Deutschland geworden. Über mindestens zehn Jahre soll Andreas V. hier zusammen mit anderen Männer viele Kinder sexuell schwer missbraucht haben. Tausendfach. Anfangs war von 23 Opfern im Alter zwischen vier und 13 Jahren die Rede, inzwischen gehen die Ermittler von 31 Opfern aus. Und längst hat sich der Fall zum Polizei- und Behördenskandal ausgewachsen.

    Durchsuchung auf dem Campingplatz Lügde: Auf dem Tisch steht ein Koffer mit Kinderspielzeug

    Seit Mittwoch geht die Spurensuche auf dem Campingplatz weiter. Hunderte Polizisten durchsuchen die heruntergekommene Parzelle von Andreas V. Mit dabei sind auch drei Vertreter der Staatsanwaltschaft Detmold, die sich an diesem sonnigen Tag ein eigenes Bild vom Tatort machen wollen. Das hier, sagt Oberstaatsanwalt Ralf Vetter, ist kein normaler Tatort.

    Um tief ins Innere der verwinkelten Behausung zu gelangen, muss man durch einen Vorbau gehen, der an eine überdachte Terrasse erinnert. Vorbei am Gartentisch, auf dem sich neben Biergläsern, Einwegplastikbechern, Astschere und Pferdebürste auch ein offener Koffer mit Kinderspielzeug findet. Auf einem Regal liegen leere Cola- und Eisteeflaschen, daneben steht ein Stapel Plastikgartenstühle, ein Holzkohlegrill, eine Sackkarre, ein Wäscheständer. Auf dem Boden ist inmitten vieler anderer Dinge ein Eimer mit Briketts und Einweg-Gaskartuschen zu erkennen. Geradeaus geht es in die eigentliche Hütte, deren Außenwände rot gestrichen sind. Drinnen ist es verwinkelt, unübersichtlich, vermüllt.

    Um so komplizierter ist die Arbeit für die Ermittler. „Wir tragen das jetzt Stück für Stück ab“, sagt eine Kriminaltechnikerin. Die Parzelle wird komplett leer geräumt. Alles muss raus, gesichert, katalogisiert, verpackt und gesichert werden. Was unwichtig ist, landet in einem Container. Was hier keiner sagt: Nach all dem, was im Fall Lügde schief gelaufen ist, darf nicht noch eine Panne passieren.

    Warum wird einem arbeitslosen Junggesellen ein Pflegekind anvertraut?

    Drinnen steht ein Tisch, darum schwere, dunkle Holzstühle, darauf Unterlagen kreuz und quer. Dazwischen eine Flasche, ein Schutzhelm, eine Büroleuchte, an der ein kleines Holzherz baumelt. Hat das Mädchen hier seine Schularbeiten machen müssen? Und noch mehr?

    Allein die Tatsache, dass einem Junggesellen, der in einem Wohnwagen haust, ein Pflegekind anvertraut, ist unbegreiflich. Dass das Jugendamt nicht schon angesichts dieser Wohnverhältnisse eingeschritten ist. Und dass keiner der anderen Camper mitbekommen haben will, was hier passierte.

    Das Pflegekind habe sich unerwartet gut gemacht in der Schule, erklärte das Jugendamt Hameln-Pyrmont vor einigen Wochen. Ja, die Wohnsituation sei nicht optimal gewesen. Aber das Mädchen habe sich hier wohlgefühlt. Und das habe es ja auch selbst gesagt.

    Nur: Kann das wirklich sein?

    An der Holzwand hinter dem Esstisch hängt ein Abreißkalender. Montag, 19. Februar, steht auf dem obersten Blatt. Das muss 2018 gewesen sein. Darüber eine Urkunde vom „Sponsorenlauf der Grundschule Lügde“ mit dem Namen des Mädchens und seiner Platzierung. Dann noch: viele bunte Bilder, selbstgemalt, mit Wasserfarben, Buntstiften und Filzschreibern. Sie zeigen Blumen, Pferde, Regenbögen und Herzen. Und immer wieder zwei Namen in kindlicher Schrift: Der des Mädchens und der Spitzname des Pflegevaters: „Addy“. „Liebe ist...“ steht auf einem anderen Bild . Und wieder die Namen der Neunjährigen und des 56-Jährigen.

    Freundinnen der Pflegetochter haben auf dem Campingplatz Lügde übernachtet

    Andreas V. soll – so der Stand der Ermittlungen – seine Pflegetochter nicht nur missbraucht haben, er soll sie auch als Lockvogel für andere Kinder eingesetzt haben. Wie es sich jetzt darstellt, schuf der Dauercamper eine Wohlfühlatmosphäre, in der viele Eltern ihre Kinder ohne Bedenken spielen ließen. Manche übernachteten auch bei der Pflegetochter von Andreas V.

    Der 56-Jährige soll im Wechsel mit Mario S., 33, gefilmt und missbraucht haben. Zudem gehen die Ermittler davon aus, dass ein 48-Jähriger per Videochat zugesehen hat. Alle drei Männer sitzen in Untersuchungshaft. Die Polizei hat bei ihnen zahlreiche Fotos und Videos sichergestellt, von denen aber nur ein Teil in Lügde entstanden ist.

    Die Menschen in der Stadt mit ihrem historischen Ortskern und den schönen Fachwerkhäusern macht der Missbrauchsfall sprachlos. Und dann ist da noch das Behördenversagen, das einen geradezu fassungslos zurücklässt. Verschwundene Beweismittel, schlampige Ermittlungen, Pannen über Pannen.

    Es gibt Vorwürfe gegen Mitarbeiter in Jugendämtern und gegen Polizeibeamte. Die Staatsanwaltschaft Detmold prüft, ob ein früheres Eingreifen, also nicht erst im Herbst 2018, nötig gewesen wäre. Denn bereits 2016 sollen zwei Hinweise bei der Polizei Lippe eingegangen sein. Inzwischen mussten dort zwei ranghohe Polizisten ihre Posten räumen. In Niedersachsen wurde ein Jugendamtsmitarbeiter freigestellt, der Akten manipuliert haben soll. Nach Angaben des nordrhein-westfälischen Innenministers wird gegen 14 Beschuldigte bei Behörden ermittelt – unter anderem wegen Strafvereitelung im Amt und wegen Verletzung der Fürsorgepflicht.

    Der Polizeischüler hat die CDs und DVDs mit Beweismaterial einfach stehen lassen

    Auch in den laufenden Ermittlungen gab es eine unfassbare Panne. Insgesamt 15 Terabyte Datenmaterial stellten die Polizei Lippe am 6. Dezember auf dem Campingplatz und in einer Wohnung sicher. Ein Teil davon – etwa 0,7 Terabyte – aber ist verschwunden. Mit der Sichtung der 155 CDs und DVDs wurde ein Polizeischüler beauftragt, der dafür gerade einmal fünf Stunden gebraucht haben will. Nur von drei der Datenträger soll er eine Sicherungskopie angefertigt haben – und die Mappe sowie den Alu-Koffer einfach auf dem Schreibtisch eines normalen Arbeitsraumes stehen haben lassen. Erst, als das Beweismaterial am 30. Januar in einen extra eingerichteten Asservatenraum der Polizei Lippe umgelagert werden sollte, fiel auf, dass es nicht mehr da war.

    Lügde, die Stadt im Osten Nordrhein-Westfalens, ist zum Synonym für einen der spektakulärsten Missbrauchsfälle in Deutschland geworden.
    Lügde, die Stadt im Osten Nordrhein-Westfalens, ist zum Synonym für einen der spektakulärsten Missbrauchsfälle in Deutschland geworden. Foto: Guido Kirchner, dpa

    Sonderermittler und Mitarbeiter des Landeskriminalamts sind im Einsatz, um das Verschwinden der Datenträger zu klären. Innenminister Herbert Reul (CDU) spricht längst offen von Polizei- und Behördenversagen. Das sieht auch Ingo Wünsch so, ein von Reul eingesetzter Sonderermittler, der in dieser Woche eine beispiellosen Kette des Versagens in der Kreispolizeibehörde Lippe skizzierte – handwerkliche Fehler, die sich potenziert hätten, gepaart mit fehlender Führungsverantwortung. Als das Polizeipräsidium Bielefeld, das den Fall übernommen, in der vergangenen Woche erneut zur Durchsuchung am Campingplatz anrückte, fand sie weiteres Beweismaterial im Wohnwagen von Andreas V., darunter 131 CDs.

    Inzwischen leitet Thorsten Stiffel die Ermittlungen. Der Kriminalhauptkommissar des Polizeipräsidiums Bielefeld war auch Leiter der Mordkommission um die Verbrechen im „Horrorhaus“ von Höxter. Rund 30 Kilometer von Lügde entfernt waren über Jahre Frauen misshandelt worden, zwei starben. „Das Besondere im Fall Lügde ist das große öffentliche Interesse an dem Fall an sich, aber auch an der Arbeit der Polizei“, sagt Stiffel. Die Öffentlichkeit sei wesentlich stärker auf jedes Detail polizeilicher Arbeit fokussiert als bei anderen Fällen.

    Oberstaatsanwalt Ralf Vetter nimmt die Polizei in einem Punkt in Schutz. „Meines Erachtens war am Beginn der Ermittlungen für die Polizei in Lippe nicht erkennbar, welchen Umfang das Verfahren annehmen und welcher Ermittlungsaufwand erforderlich werden würde.“ Sprich: Die kleine Behörde war überfordert. Stiffel sagt: „Die Vorwürfe gegen die Polizei lassen das Team nicht kalt und lassen sich auch nicht vollständig ausblenden.“ Das bewege alle Polizisten, die mit Professionalität und Engagement ihrer Arbeit nachgehen.

    Der Campingplatz-Betreiber wünscht sich einfach nur Ruhe

    Im Kreis Lippe hat Landrat Axel Lehmann inzwischen Rücktrittsforderungen bekommen. Die Hauptverantwortung sieht er in der obersten Führungsebene der Polizei. Zudem beklagt der SPD-Politiker, dass Lippe die niedrigste Polizeidichte in ganz NRW habe. Warum das so ist, erklärt der Blick in die Kriminalitätsstatistik: Der Landkreis ist der sicherste im Bundesland und bekommt daher vom Bundesland and auch weniger Personal.

    Die Ermittler setzen Artus ein - einen Schäferhund, der auf die Suche nach Datenträgern spezialisiert ist.
    Die Ermittler setzen Artus ein - einen Schäferhund, der auf die Suche nach Datenträgern spezialisiert ist. Foto: Guido Kirchner, dpa

    Auf dem Campingplatz „Eichwald“ hat die Autobahnmeisterei Sichtschutzzäune aufgestellt, damit die Ermittler ungestört im Wohnwagen und der Holzhütte nach Beweisen suchen können. Artus, ein Diensthund der sächsischen Justiz, der für die Suche nach Datenträgern ausgebildet wurde, ist im Einsatz. Polizei und Staatsanwaltschaft melden einen Erfolg: Gerade hat Artus einen USB-Stick in einer Sesselritze aufgespürt.

    Vorne, am Schlagbaum, steht Frank Schäfsmeier. Der Campingplatz-Betreiber ist froh, wenn die Ermittler fertig sind. „Es reicht jetzt. Es muss mal Ruhe einkehren“, sagt der 54-Jährige. Ständig seien in den letzten Wochen Fremde auf dem Platz herumgelaufen. „Das war schon mehr als grenzwertig.“ Schäfsmeier hätte ihnen den Zugang verwehren können. Aber das wollte er nicht. „Etwas verbergen bringt ja nichts“, sagt er. (mit dpa)

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