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Gletscherbahn-Katastrophe: Kaprun-Unglück: Nach zehn Jahren kein Schuldiger gefunden

Gletscherbahn-Katastrophe

Kaprun-Unglück: Nach zehn Jahren kein Schuldiger gefunden

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    Vor zehn Jahren ereignete sich die Ski-Seilbahn-Katastrophe in Kaprun
    Vor zehn Jahren ereignete sich die Ski-Seilbahn-Katastrophe in Kaprun Foto: Holger Sabinsky

    Wenn Hermann Geier Bahn fährt, bricht er manchmal zusammen. Einfach so. Zwei Herzinfarkte hatte er. Fast jede Nacht plagen ihn Albträume. Tunnel meidet er.

    Hermann Geier ist aus der brennenden Gletscherbahn von Kaprun rausgekommen. Er ist einer von nur zwölf Menschen, die das geschafft haben. 155 sind gestorben. Der 73-Jährige aus Vilseck in der Oberpfalz hat Glück gehabt, könnte man sagen. Aber was heißt schon Glück in diesem Zusammenhang? "Mein Vater ist ein gebrochener Mann", sagt sein Sohn Bernd, "aber wir müssen die Vergangenheit bewältigen."

    In Kaprun kann man jetzt in der Wohlfühl-Therme entspannen. Am Montag hat das "Tauern Spa" eröffnet. Drei Tage vor dem zehnten Jahrestag des Feuerinfernos. Die exklusive Anlage mit Vier-Sterne-Hotel ist heuer mit 83 Millionen Euro das teuerste Tourismus-Projekt in Österreich. Am vergangenen Wochenende war "White Start", Saisonbeginn auf dem Gletscher des Kitzsteinhorns. Im Dezember wird dort die umgebaute Bergstation mit der "Gipfelwelt 3000" eröffnet. Werbefilme für all dies laufen auch in Bayern rauf und runter. "Nach der Katastrophe waren wir in einem leeren Tal ohne Hoffnung", sagt Kapruns Bürgermeister Norbert Karlsböck (SPÖ), "aber wir müssen die Zukunft bewältigen."

    Am Samstag, den 11. November 2000, schien die Sonne auf dem Kitzsteinhorn. Um 9.02 Uhr setzte sich die Standseilbahn mit knapp 170 Wintersportlern in Bewegung. Um 9.10 Uhr blieb die Bahn im Tunnel plötzlich stehen. Im hinteren Teil war Feuer ausgebrochen, das sich rasend schnell ausbreitete. Es gab keine Nothämmer und keine Notsprechanlagen. Manfred Hiltel, ein Skikamerad von Hermann Geier aus Vilseck, schlug wie wild mit seinen Skiern auf die Scheibe ein, bis diese endlich barst. Er konnte sich retten, seine Schwiegertochter aber nicht mehr aus der Kabine ziehen. 20 der 37 deutschen Toten kamen von seinem Skiclub Unterweißenbach in der Oberpfalz.

    Jahrelang hatte auch Hiltel einen Albtraum: Ein Schlitten mit seinen toten Freunden rauschte an ihm vorbei, während er in einem schwarzen Loch saß und nicht rauskam. Man muss kein Psychologe sein, um dies zu deuten. Nur mit Medikamenten bekam Hiltel seine Ängste in den Griff.

    Zehn Winter danach können Angehörige und Überlebende immer noch nicht mit der Katastrophe abschließen. Weil sie die Bilder nicht aus dem Kopf kriegen. Vor allem aber, weil die Schuld immer noch kein Gesicht hat. 16 Mitarbeiter der Gletscherbahn und Verantwortliche von Baufirmen und Behörden wurden angeklagt. Der Haken an der Sache ist: Als Haupteigentümer der Kapruner Gletscherbahnen musste der Staat Österreich über sich selbst richten. Am 19. Februar 2004 sprach der Salzburger Richter Manfred Seiss alle 16 Männer frei. Nur einen Verantwortlichen nannte der Richter: "Da hat Gott wohl für ein paar Minuten das Licht im Tunnel ausgemacht", sagte er den fassungslosen Hinterbliebenen.

    Das Oberlandesgericht Linz bestätigte 2005 den Freispruch. Nach den Erkenntnissen der Richter wurde das Unglück durch einen überhitzten Heizlüfter ausgelöst. Als Öl aus dem Bremssystem austrat, entzündete sich das verheerende Feuer. Für die Richter ist die Katastrophe eine Verkettung besonders unglücklicher Umstände. Verantwortlich zu machen sei dafür niemand - nicht die Geschäftsführung der Gletscherbahnen, nicht der Hersteller des Zugs und auch nicht der österreichische TÜV.

    Vier Gutachter und die Richter fanden stattdessen einen Verantwortlichen außerhalb der Alpenrepublik. Der Heizlüfter des deutschen Herstellers Fakir habe einen Produktionsfehler gehabt und die Bahn in Brand gesetzt. Österreichs Ruf als Wintersportland war gerettet.

    Doch die 451 Hinterbliebenen und Überlebenden nehmen das nicht hin. Obwohl im Jahr 2008 in einer außergerichtlichen Einigung den Betroffenen 13,9 Millionen Euro zugesprochen worden sind, laufen noch mehr als 30 Kaprun-Gerichtsverfahren in Heilbronn, New York, Salzburg und Wien. Der Wiener Opferanwalt Gerhard Podovsovnik, der 80 Angehörige vertritt, bekämpft den Freispruch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Trauernden fordern "Gerechtigkeit und nicht Geld". Und Bernd Geier, der im Namen der Initiative "Gerechtigkeit für Kaprun" spricht, sagt: "Wir wollen wissen, was wirklich im Tunnel passierte."

    Einige Hinterbliebene kritisieren auch, wie der Ort Kaprun mit der Katastrophe umgegangen ist. Einen Monat nach dem Unglück lief der Skizirkus am Kitzsteinhorn wieder. "Was hätten wir machen sollen? Wir haben keine Alternative zum Tourismus", sagt Norbert Karlsböck, der schon im Jahr 2000 Kapruner Bürgermeister war. Heute setze Kaprun auf Sicherheit und Qualität. "Wir werden auf einem anderen Level gemessen." Karlsböcks Antworten zeugen von einem wohlüberlegten Umgang mit der Vergangenheit. Er zeigt Respekt und Verständnis für die Angehörigen, die die juristische Aufarbeitung nicht ruhen lassen wollen.

    Kaprun hat an der Talstation eine Gedenkstätte eingerichtet, die der deutsche Architekt Anton Michael entworfen hat. Der längliche Betonquader ist dürftig ausgeschildert. Im Innern werden die 155 Opfer durch hohe farbige Glasfenster symbolisiert. Sehr viele Jugendliche waren darunter. Vor den Nischen häufen sich zum zehnten Jahrestag hin die Kerzen, Fotos und Herzen. Ein schmales, hohes Fenster gibt den Blick frei zum Berghang. Dort steht noch das Gerüst der Standseilbahn wie ein Skelett. Der Tunnel ist verschlossen. Heute um neun Uhr findet dort eine Gedenkfeier mit dem österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann und weiteren hohen Vertretern aus Politik und Kirche statt. Auch Hunderte Angehörige werden erwartet.

    Trauer und Gedenken werden überschattet von der zweifelhaften juristischen Aufarbeitung. Opferanwalt Podovsovnik spricht von befangenen Experten, voreingenommenen Richtern, fehlerhaften Ermittlungen und Vertuschungen. Die Republik Österreich habe kein Interesse an der ganzen Wahrheit von Kaprun. Der Anwalt kritisiert die "intensiven wirtschaftlichen Verflechtungen mit den Gletscherbahnen.

    Aus der Luft gegriffen scheinen diese Vorwürfe nicht zu sein. Nach dem Urteil in Österreich wollten die Bahnbetreiber Schadenersatz von der deutschen Firma Fakir aus Vaihingen, dem Hersteller des Heizlüfters, Typ "Hobby TLB". Doch die Staatsanwaltschaft Salzburg übergab die Ermittlungen an die Kollegen in Baden-Württemberg und dort konnte man sich nicht vorstellen, dass Gott jemals das Licht ausmacht. Die deutschen Sonderermittler mussten sich erst mit vorenthaltenen und manipulierten Beweisstücken herumärgern. Doch sie fanden heraus: So wie im damaligen Gerichtsverfahren beschrieben, kann das Feuer nicht entstanden sein.

    Der Heizlüfter habe weder einen Konstruktions- noch einen Produktionsfehler aufgewiesen. Das Gerät sei vielmehr falsch umgebaut und unter Missachtung etlicher Sicherheitsvorschriften in die Bahn eingebaut worden. So war der Heizlüfter zum Beispiel ausdrücklich nur für den Gebrauch im Haushalt zugelassen. Neben dem glühenden Lüfter verlief eine poröse Hydraulikleitung der Bahn. Gefüllt war sie mit schnell entflammbarem Öl.

    Nach und nach zerlegten die deutschen Experten die Arbeit der österreichischen Gutachter. An das Ende ihres 55-seitigen Berichts stellten sie den Satz, vor dem Hintergrund der neuen Erkenntnisse wäre "ein anderer Ausgang des Prozesses" zu erwarten gewesen.

    Die Stuttgarter Gutachter Hans-Joachim Keim und Bernhard Schrettenbrunner kämpfen ebenfalls dafür, dass die Katastrophe neu aufgerollt wird. Die Firma Fakir hatte Keim als Gutachter beauftragt. Er forschte weiter, als die Ermittlungen gegen Fakir längst eingestellt waren - ohne Auftrag und ohne Bezahlung. Keim bezichtigt die österreichischen Gutachter der Lüge. Er habe noch nie eine solche Konzentration von Gefälligkeitsgutachten erlebt. Die Verantwortlichen hätten die Gefahr billigend in Kauf genommen. Bernhard Schrettenbrunner sagt: "Dass bis heute niemand zur Verantwortung gezogen wurde, ist eine Schande für Europa."

    Mit der Wut der Leute muss Kaprun leben. Der Ort ist zu einem Synonym für Katastrophen geworden. Die Gästezahlen haben aber wieder das Niveau der Zeit vor dem Unglück erreicht. Bürgermeister Karlsböck ist zum dritten Mal wiedergewählt worden. Man hat dem Ingenieur in Kaprun nicht übel genommen, dass er 2006 hauptberuflich in den Vorstand der Gletscherbahnen AG gewechselt ist - der Betreiber der Unglücksbahn. Der Bürgermeister sagt: "Es gibt einen großen Unterschied: Die Vergangenheit ist nicht mehr veränderbar. Die Zukunft lässt sich gestalten." Von Holger Sabinsky

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