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Kriminalität: Ist er Deutschlands grausamster Serienmörder?

Kriminalität

Ist er Deutschlands grausamster Serienmörder?

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    Niels H. im Dezember 2014 vor dem Landgericht Oldenburg.
    Niels H. im Dezember 2014 vor dem Landgericht Oldenburg. Foto: Ingo Wagner, dpa (Archiv)

    Klinikum Delmenhorst, 22. Juni 2005, ein Mittwoch. Auf der Intensivstation hat die Spätschicht begonnen. In Zimmer 6 liegt der ehemalige Justizvollzugsbeamte Dieter M. im künstlichen Koma. M., 63 Jahre alt, leidet an Lungenkrebs, er hat gerade zwei Operationen überstanden. Die Ärzte haben einen Luftröhrenschnitt vorgenommen, sein Zustand ist stabil.

    Bis der Krankenpfleger Niels H., 28 Jahre alt, in sein Zimmer tritt.

    H. spritzt Dieter M. 40 Milliliter des Medikaments Gilurytmal in die Vene. Gilurytmal ist ein Herzmittel, eine Überdosis kann lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen und einen Blutdruckabfall verursachen.

    Neben dem Krankenbett steht eine Infusionspumpe. M. erhält darüber pro Stunde sieben Milliliter des Blutdruckmittels Arterenol. H. dreht die Pumpe auf null. Als der Überwachungsmonitor Alarm auslöst, schaltet er den Ton ab.

    Bei Dieter M. setzt ein lebensbedrohliches Herzkammerflattern ein, sein Blutdruck sackt ab. Eine Krankenschwester kommt zufällig ins Zimmer. H. sagt zu ihr: „Dein Patient hat keinen Druck mehr.“ Die Schwester ruft einen Kollegen zu Hilfe, gemeinsam leiten sie Wiederbelebungsmaßnahmen ein. Sie können Kreislauf und Blutdruck von M. wieder stabilisieren. Vorerst. 29 Stunden später ist Dieter M. tot.

    Zuvor ist die Krankenschwester misstrauisch geworden, sie hat M. nach der Reanimation eine Blutprobe entnommen. In der Klinikapotheke stellt sie fest, dass fünf Ampullen Gilurytmal zu je zehn Milliliter fehlen. Die Schwester weiht den Kollegen ein, der bei der Reanimation von Dieter M. dabei war. Der Kollege findet vier leere Ampullen im Mülleimer der Intensivstation.

    Irgendwann fällt der Verdacht auf Niels H.

    Die Klinik schaltet die Polizei ein. Irgendwann fällt der Verdacht auf Niels H. Und es stellt sich heraus: Dieter M. ist nicht das einzige Opfer. Jahrelang wird ermittelt, prozessiert, Niels H. wird verurteilt, es wird neu prozessiert. Das vorerst letzte Wort spricht das Landgericht Oldenburg im Februar 2015: lebenslange Haft wegen zweifachen Mordes sowie zweifachen versuchten Mordes. Außerdem stellt das Gericht eine besondere Schwere der Schuld fest. H. kann nicht nach 15 Jahren vorzeitig entlassen werden.

    H. hat schon in der Verhandlung zugegeben, dutzenden Patienten das Mittel gespritzt zu haben. Und noch schlimmer: Bei der Prozedur seien insgesamt etwa 30 Menschen gestorben. Deshalb gehen die Ermittlungen weiter. Gestern legen die Behörden neue Fakten auf den Tisch. Sie sind so erschütternd, dass nun klar ist: Dieser Fall könnte sich zum grausamsten Serienmord in der deutschen Nachkriegsgeschichte entwickeln. Der Oldenburger Polizeipräsident Johann Kühme kommt zu dem Schluss: „Man kann sagen, das Grauen hört nicht auf.“

    Niels H. hat wohl tatsächlich weit mehr Menschen getötet als bisher angenommen. Bei 27 von 99 exhumierten ehemaligen Patienten des Klinikums Delmenhorst seien Rückstände des Wirkstoffs Ajmalin entdeckt worden, das im Medikament Gilurytmal enthalten ist, sagt Kühme auf einer Pressekonferenz. Insgesamt gehen die Ermittler jetzt davon aus, dass der Ex-Krankenpfleger für mindestens 33 Todesfälle in Delmenhorst verantwortlich ist.

    Die Beamten sind davon überzeugt: Niels H. hat Patienten mit einer Überdosis absichtlich in einen „reanimationspflichtigen Zustand“ versetzt, um anschließend bei der Reanimierung seine Fähigkeiten zu beweisen. Viele überlebten diese Notmaßnahme nicht. Ob er auch andere Substanzen nutzte, wird noch geprüft.

    Diese zusätzlichen Tötungshandlungen habe H. jetzt eingeräumt, sagen die Ermittler. Es kommt noch schlimmer: Entgegen früherer Behauptungen hat der heute 39-Jährige auch gestanden, an seinem früheren Arbeitsplatz im Klinikum Oldenburg Patienten mittels einer Kaliuminjektion getötet zu haben. „Wie viele Patienten Opfer in Oldenburg waren, können wir derzeit nicht sagen“, sagt Oberstaatsanwältin Daniela Schiereck-Bohlmann. Es bestehe dringender Tatverdacht in sechs Fällen, davon in vier Fällen wegen Kaliumvergiftung.

    Niels H. soll ein weiteres Mal vor Gericht

    Niels H. soll nun nach dem Willen der Ermittler ein weiteres Mal vor Gericht. „Es wird natürlich eine weitere Anklage geben“, sagt Schiereck-Bohlmann. Das Verfahren werde alle Taten umfassen, die Niels H. noch nachgewiesen werden könnten. „Die rechtliche Konsequenz wird am Ende dieselbe sein: lebenslänglich und besondere Schwere der Schuld. Daran wird sich nichts ändern.“

    Der Fall hat auch deswegen eine so große Dimension, weil Polizei und Staatsanwaltschaft prüfen, ob die Verantwortlichen in den Kliniken eine Mitverantwortung trifft. In Oldenburg sei die Zahl der Todesfälle nach Reanimationen ab 2001 bis auf das Dreifache gestiegen – immer dann, wenn H. Dienst hatte, sagt der Leiter der Soko „Kardio“, Arne Schmidt. Dies sei auch der Klinikleitung aufgefallen und ein Gutachten erstellt worden. Allerdings seien nicht die richtigen Schlüsse gezogen worden.

    Polizeipräsident Kühme macht den Verantwortlichen des Krankenhauses schwere Vorwürfe. Spätestens 2001 sollen sie von Auffälligkeiten gewusst haben. Die Mordserie in Delmenhorst soll nach dem neuen Geständnis von H. Ende 2002 begonnen haben. Warum die Polizei nicht eingeschaltet wurde, wisse er nicht, sagt Kühme. „Es spricht vieles dafür, dass die Morde im Klinikum Delmenhorst hätten verhindert werden können.“

    In Oldenburg werden nun „mehrere hundert Patientenakten“ überprüft, kündigt die Staatsanwaltschaft an. Anschließend werde ein Gutachter diese Akten auswerten. Dann werde entschieden, ob auch in Oldenburg Massenexhumierungen notwendig seien. Häufig sei der Nachweis der Medikamente kaum noch möglich, weshalb es ein sehr großes Dunkelfeld gebe, sagt Oberstaatsanwalt Thomas Sander.

    Wer ist dieser Niels H.? Ein Mann, der sich im Krankenhaus „in den Vordergrund“ drängen wollte, wie das Gericht lange annimmt? Dem es um das „Zurschaustellen der eigenen Person“ ging? Der auch im Gefängnis gern im Mittelpunkt steht? Nach Zeugenaussagen von früheren Mithäftlingen vor Gericht war in der Zelle von H. den ganzen Tag Betrieb. Es sei dort viel geredet und gelacht worden, man habe Kaffee getrunken. Zumindest eine Zeit lang zeigt sich im Gefängnis offenbar das zweite Gesicht von Niels H.: freundlich, hilfsbereit, intelligent.

    "Ja, ich war es"

    Die Mithäftlinge sagen fast übereinstimmend aus, dass Niels H. ihnen gegenüber die Morde an den Patienten zugegeben habe. „Ja, ich war es“, habe der Ex-Krankenpfleger gesagt, berichtet der erste. „Er hat mir die Tötung von fünf gestanden.“ Niels H. habe erzählt, dass er acht Menschen getötet habe, sagt der nächste Zeuge. „Ich habe bei 50 aufgehört zu zählen“, zitiert Nummer drei den Angeklagten.

    Die Gründe hat er seinen Mithäftlingen angeblich auch genannt. Erst habe er Leute von ihren Leiden erlösen wollen, dann aus Langeweile Patienten der Intensivstation nachts totgespritzt. Er habe ihnen gezeigt, wie die Menschen vor ihrem Tod gezittert hätten, erzählen zwei der Ex-Mithäftlinge. „Dann bin ich ja der größte Serienmörder der Nachkriegsgeschichte“, soll Niels H. einem gesagt haben.

    H. wird 1976 in Wilhelmshaven geboren, auf einem Ohr taub. Er wächst in einem katholischen Elternhaus auf; „warmherzig und tragfähig“, nennt er es später im Gespräch mit seinem psychiatrischen Gutachter. H.s Vater ist Krankenpfleger aus Überzeugung, er arbeitet viel, ist gebildet, verschlossen, politisch organisiert in der SPD. Die Mutter kommt aus eher schwierigen Verhältnissen, gelernte Anwaltsgehilfin, sie muss putzen gehen. H. hat eine ältere Schwester, die später Zahnarzthelferin wird. „Eine durch und durch helfende Familie“, sagen Bekannte aus Wilhelmshaven.

    Als Niels elf Jahre alt ist, trennen sich die Eltern für einige Zeit, er entwickelt Ängste. Niels besucht die Integrierte Gesamtschule, Mitschüler und Lehrer erinnern sich an ihn als nett, fröhlich, hilfsbereit. Kein Einzelgänger, immer mittendrin. H. will Feuerwehrmann werden, doch er hat Höhenangst. Das Medizinstudium ist ihm zu aufwendig. Die Oberstufe der Schule besucht er nicht mehr. Sein Berufswunsch steht nun fest: Er will Pfleger werden, wie der Vater.

    "Beste Phase seines Lebens"

    Mit 17 beginnt er die Pflegerausbildung. Mädchen, Alkohol und Drogen nehmen jetzt einen größeren Platz in seinem Leben ein. Das Examen ist mittelmäßig, aber H. wird übernommen, er erlebt die „beste Phase seines Lebens“. 1999 fängt er auf der herzchirurgischen Intensivstation des Klinikums Oldenburg an. Er ist der belastenden Arbeit aber offenbar nicht gewachsen. Schon die erste Herzoperation beschreibt er als „traumatisierendes Erlebnis“. Er wird immer müder, vereinsamt innerlich. Er beginnt zu trinken, entwickelt Depressionen und Angstzustände, die bis heute behandelt werden müssen.

    In der Klinik gibt es Ärger. H. wird 2001 versetzt, ein Jahr später muss er gehen. Man habe kein Vertrauen mehr in ihn, sagt ein Chefarzt. Er wechselt nach Delmenhorst, ausgestattet mit einem guten Zeugnis aus Oldenburg. Seit gestern steht fest: Der erste nachgewiesene Tötungsfall in Delmenhorst ereignet sich am 22. Dezember 2002 – in seiner siebten Schicht. Es ist, das ist wohl klar, nicht sein erster Mord.

    2004 heiratet H., seine Tochter kommt zur Welt. Die Geburt ist lebensbedrohlich für das Kind. Er steht daneben, kann nichts tun. H. ist vom Familienleben überfordert, lässt seine Frau allein zu Hause. Wenn er frei hat, fährt er im Rettungswagen mit. Für Niels H. gibt es nur noch Arbeit, Alkohol, Tabletten und noch mehr Arbeit.

    Ist auch das ein mögliches Motiv: Sich zum Herrscher über Leben und Tod aufspielen, um zumindest für kurze Zeit diesem Kreislauf zu entkommen? Dieter M. ist dies zum Verhängnis geworden, an jenem Mittwoch im Juni 2005, in Zimmer 6. Ihm und unfassbar vielen anderen Patienten. mit dpa und afp

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