Die Einsatzkräfte in der Schweiz stellen ihre Suche nach acht vermissten Bergwanderern - unter ihnen vier Deutsche - nach dem riesigen Bergsturz bei Bondo ein. "Man hat alles Mögliche ausgeschöpft, um diese Vermissten zu finden", sagte Polizeisprecherin Sandra Scianguetta von der Kantonspolizei Graubünden in Chur am Samstag der Deutschen Presse-Agentur. "Man hat jetzt entschieden, dass die Suche nach den Vermissten aufgegeben wird."
Von den vier Deutschen, zwei Österreichern und zwei Schweizern fehlt jedes Lebenszeichen, seit sie am Mittwoch von dem Felssturz am 3369 Meter hohen Piz Cengalo überrascht wurden.
Nach einem zweiten Geröll- und Schlammabgang im Schweizer Kanton Graubünden hatten die Einsatzkräfte bereits am Samstagmorgen ihre Suche nach den acht Vermissten des ersten Bergsturzes vom Mittwoch vorübergehend eingestellt. Die Helfer berieten am Samstagvormittag, ob die Gegend um das Dorf Bondo sicher genug sei, um die Suche fortzusetzen, sagte eine Polizeisprecherin der Deutschen Presse-Agentur.
Mit dem zweiten Murgang vom Freitag waren neue Massen an Geröll und Schlamm in das Bondasca-Tal und das dort liegende Bondo herabgestürzt. Bei dem riesigen Bergsturz waren im Gipfelbereich vier Millionen Kubikmeter Fels abgebrochen und ins Bondasca-Tal gedonnert, die dort nun viele Meter hoch herumliegen. Der Geologe Andreas Huwiler vom Graubündner Amt für Wald und Naturgefahren schloss weitere Murgänge nicht aus. "Die größte Gefahr ist, wenn es in der Gegend mehrere Tage lang heftig regnet oder gewittert", sagte er der "Neuen Zürcher Zeitung". "Unter diesen Umständen rechnen wir mit weiteren Murgängen."
Die Bürgermeisterin des Ortes Bondo hat indessen eine Mitverantwortung zurückgewiesen. Das Dorf habe alles getan, um Tote infolge von Erdrutschen zu verhindern, sagte Anna Giacometti am Samstag vor Reportern auf eine entsprechende Frage. Die Gemeinde Bregaglia, zu der Bondo gehört, habe eine Menge Geld ausgegeben, um das Bondasca-Tal unter anderem mit Warnschildern und Auffangbecken für herabstürzendes Geröll abzusichern. "Was passiert ist, tut natürlich sehr weh, aber ich denke, wir haben alles Menschenmögliche getan", sagte Bürgermeisterin Giacometti.
Polizei: Überlebenschancen der vermissten Bergsteiger gering
Die Polizei war am Freitag zwar weiter mit Hubschraubern und Rettungskräften sowie Spürhunden in dem Geröllgebiet. Die Überlebenschancen seien aber gering. "Da sucht man jeden begehbaren Winkel ab", sagte Polizeisprecher Markus Walser. "Doch irgendwann kommt die Zeit, wo man sagt, man hat alles getan."
Es gebe immer noch Gebiete, in denen der Zugang für Rettungskräfte zu gefährlich wäre. "Wir haben immer die Gefahr, dass einzelne Felsbrocken herunterkommen könnten", sagte der Sprecher. Das Tal sei über weite Strecken bis zu 30 Meter hoch zugeschüttet. Die Polizei war mit den Angehörigen in Kontakt. Neben den Deutschen wurden auch zwei Österreicher und zwei Schweizer vermisst.
Bekannt ist zudem, dass die vermissten Deutschen aus Baden-Württemberg stammen. Das sagte ein Polizeisprecher am Freitag derDeutschen Presse-Agentur. Der Herkunftsort sei bekannt, werde aber noch nicht veröffentlicht. Die Polizei stehe in Kontakt mit den Angehörigen.
Am späten Freitagnachmittag berichtete die Schweizer Zeitung Blick, dass es zu einem zweiten Erdrutsch gekommen sei. Eine Reporterin berichtete, an ihr trieben "Dächer und Bäume vorbei". Über das exakte Ausmaß ist allerdings noch wenig bekannt. Die Polizei bestätigte dies. Alle Rettungskräfte, die oben im Gebirge noch nach den acht Vermissten suchten, seien rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden, sagte eine Sprecherin. Geologen hatten weitere Verschiebungen im Gestein erwartet und davor gewarnt.
Wie ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP schilderte, stieg am Freitag plötzlich eine Staubwolke über dem Berg auf. "Minuten später sah ich einen Fluss aus Matsch auf das Dorf niedergehen." Danach reichten die Erdmassen bei einigen Häusern bis zum Dach.
Suche nach Vermissten in Graubünden: Hoffnungen schwinden
Trotz der groß angelegten Suchaktion schwinden die Hoffnungen, die Wanderer lebend zu retten. 48 Stunden nach dem Unglück seien die Überlebenschancen nicht mehr sehr hoch, sagte der Sprecher der Kantonspolizei, Roman Rüegg, bei einer Pressekonferenz am Freitag. Auch die Schweizer Bundespräsidentin Doris Leuthard äußerte sich pessimistisch. "Mit jeder Stunde steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die acht vermissten Personen tot sind", sagte sie am Donnerstag nach einem Besuch in der Unglücksregion.
In den höheren Lagen zeigt sich ein Bild der Verwüstung, berichteten Retter im Schweizer Fernsehen. Der Schutt türme sich dort 40 bis 50 Meter hoch auf. Drohnen lieferten Aufnahmen von einer riesigen grauen Schlammwüste.
Hubschrauber kreisen über das Bondasca-Tal
Die acht vermissten Wanderer und Bergsteiger hätten in der Sciora-Hütte übernachtet und seien am Mittwoch zwei Stunden vor dem Bergsturz losgegangen, berichtete Hüttenwart Reto Salis-Hofmeister dem Sender SRF. Angehörige und Polizei konnten sie seit dem nicht mehr erreichen. Die Schweizer Zeitung Blick berichtete , es handele sich um vier Deutsche und je zwei Österreicher und Schweizer.
In dem Wandergebiet im Bondasca-Tal gebe es zwei Hütten. Bewohner und Besucher der Hütten sowie einige Wanderer seien bereits am Mittwoch mit dem Hubschrauber ausgeflogen worden. Die ersten Bewohner können am Freitag wieder in ihre Häuser zurückkehren. Teile des Orts seien aber nach wie vor gesperrt, sagte Gemeindepräsidentin Anna Giacometti. Die betroffenen Einwohner könnten daher erst in den kommenden Tagen oder Wochen wieder in ihre Häuser einziehen.
Unglück in Graubünden: Riesige Mengen Gestein rollten ins Tal
Bei dem Felsabbruch - Bergsturz genannt - am 3369 Meter hohen Piz Cengalo donnerten riesige Mengen Gesteinsmassen ins Tal. Nach Schätzungen rutschten bis zu vier Millionen Kubikmeter Geschiebe mit Schlamm mit größeren Gesteinsbrocken nach. Das ist mehr, als die Außenalster in Hamburg an Volumen fasst. Die Erdbebenwarte in Zürich registrierte den Bergsturz mit ihren Geräten wie ein kleines Erdbeben.
Die graue Masse schob sich direkt an dem Ort Bondo vorbei. Seine 100 Einwohner wurden in Sicherheit gebracht. Verletzt wurde in dem Ort niemand, weil es ein Alarmsystem hat. Das hatte rechtzeitig vor dem Murgang, wie das Geschiebe heißt, gewarnt. Bondo liegt an der Grenze zu Italien, rund 35 Kilometer südwestlich von St. Moritz. "Bergstürze lassen sich mit technischen Mitteln nicht verhindern", schreibt die Nationale Plattform Naturgefahren Planat. Gefährdete Gebiete sollten gemieden werden. Die Wanderwege in der Region waren offenbar bereits Mitte August als gefährlich eingestuft worden. Viersprachige Tafeln seien im Dorf aufgestellt worden, hieß es. Auch am Eingang des Tales sei auf die Gefahren hingewiesen worden.
In der betroffenen Region hatte es bereits 2011 einen Bergsturz und 2012 mehrere Murgänge gegeben. Zuletzt lief dort ein Forschungsprojekt, bei dem die Arbeitsgemeinschaft Alpenländer die Ursachen von Fels- und Bergstürzen in Permafrostgebieten ergründete. Im Juli seien die letzten Messungen vorgenommen worden, sagte Martin Keiser vom Amt für Wald und Naturgefahren Graubünden im Fernsehen SRF. "Deshalb war man auf einen Bergsturz vorbereitet."
Gletscherschmelze habe zum Bergsturz beigetragen
Bei dem Bergrutsch am Piz Cengalo Ende 2011 waren 1,5 Millionen Kubikmeter Gestein in ein unbewohntes Tal gestürzt. Zuletzt gab es im November 2014 einen tödlichen Erdrutsch in der Schweiz. Dabei wurden in Davesco-Soragno im Kanton Tessin zwei Menschen getötet und vier weitere verletzt.
Die Gletscherschmelze habe zu dem Bergsturz beigetragen, sagte die Permafrostforscherin Marcia Phillips vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung der Zeitung Tages-Anzeiger. "Auch der Gletscher am Cengalo ist stark abgeschmolzen und dadurch verlor der Fels eine Stütze und wurde instabiler. Diese Konstellation ist grundsätzlich eine Gefahr im Gebirge", zitierte die Zeitung sie.
Ferner heißt es am Freitag im Zürcher Tages-Anzeiger: "Der Klimawandel ist Realität, nicht nur im fernen Grönland oder in Bangladesh, sondern auch und gerade hier. Als Alpenland ist die Schweiz sogar übermäßig stark betroffen. Wer das bezweifelt, ist schlecht informiert oder verfolgt eine politische Mission." Bondo lasse sich nicht "wegideologisieren". Damit sprechen die Autoren auch die Parlamentarier im Bundeshaus an und fordern: "Sie haben es in der Hand, bei der anstehenden Revision des CO2-Gesetzes die Schweiz klimapolitisch auf Kurs zu bringen." dpa/afp