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Frankreich: Tod durch Diät-Pille "Mediator"? Erster Prozesstag in Paris

Frankreich

Tod durch Diät-Pille "Mediator"? Erster Prozesstag in Paris

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    Rund zehn Jahre nach dem Verbot der Pillen des Pharmakonzerns Servier hat nun ein großer Prozess um das Medikament begonnen.
    Rund zehn Jahre nach dem Verbot der Pillen des Pharmakonzerns Servier hat nun ein großer Prozess um das Medikament begonnen. Foto: Fred Tanneau, dpa

    Lisa Boussinot erinnert sich noch genau an den 8. März 2004 – den Tag, an dem ihre Mutter Pascale starb. Weil sie Lärm in der Wohnung ihrer Eltern über sich hörte, ging sie nach oben: „Ich sehe meine Mutter, die nicht mehr atmen kann. Weißer und rosa Schaum kommt aus ihrer Nase und ihrem Mund. Mein Vater ruft in Panik den Notdienst an. Es dauert eine Viertelstunde, eine Viertelstunde größter Angst. Dann ist sie tot.“

    Heute kennt Boussinot den Grund für den Tod ihrer Mutter, die eine dynamische Mathematik-Lehrerin von 51 Jahren war: Sie hatte eine Herzklappenerkrankung, die höchstwahrscheinlich mit der Einnahme des Medikaments „Mediator“ zusammenhing. Mit diesem Appetitzügler wollte sie ihr Übergewicht bekämpfen, doch von den gefährlichen Nebenwirkungen wusste sie nichts. Ebenso wenig wie die anderen rund fünf Millionen Menschen, die die Diät-Pillen seit 1976 eingenommen hatten.

    Mediator sorgte für einen der größten Gesundheitsskandale Frankreichs

    Erst 2009 wurde der Zusammenhang zwischen Mediator und dem Risiko einer Verdickung der Herzklappen bekannt – und damit einer der größten Gesundheitsskandale Frankreichs. Und während Mediator-Hersteller Servier seitdem vorgeworfen wird, die Gefahren seines überaus erfolgreichen Medikaments bewusst verschleiert zu haben, steht die französische Arzneimittelbehörde (heute ANSM) unter dem Verdacht, jahrelang alle Warnungen übergangen zu haben; einige ihrer Experten standen in enger Verbindung zum Servier-Konzern.

    Am Montag nun begann in Paris ein Prozess gegen 14 angeklagte Personen und elf Firmen und Organisationen, bei dem dem Pharma-Hersteller unter anderem schwerer Betrug und der ANSM fahrlässige Tötung und Körperverletzung vorgeworfen werden. In einem ersten Verfahren war bereits Konzern-Gründer Jacques Servier neben weiteren früheren Führungskräften vor Gericht gestanden – er starb jedoch 2014 im Alter von 92 Jahren.

    Der aktuelle Prozess ist auf sechs Monate angesetzt, es gibt fast 4500 Zivilkläger und mehr als 120 Zeugen. Experten gehen in diversen Untersuchungen von 500 bis 2100 Toten in Folge der Einnahme von Mediator aus. Eigentlich für Diabetiker konzipiert, griffen überwiegend Frauen zu dem Medikament mit dem appetitzügelnden Wirkstoff Benfluorex, um abzunehmen. Laut Anklage lieferte Servier bewusst „trügerische wissenschaftliche Informationen“. Die Anwälte des Unternehmens widersprechen.

    Keine Zulassung für Mediator in Deutschland

    Mediator war in Deutschland nie zugelassen, in Italien und Spanien ist es ebenfalls verboten worden. In Frankreich dagegen blieb es einem Justizbericht zufolge aufgrund der Passivität der Behörden sowie der „Unfähigkeit, eine echte effiziente Kontrolle zu leisten“, noch auf dem Markt. Ein Arzt aus Marseille, der vor möglichen Risiken warnte, berichtet von Einschüchterungsversuchen; Beschwerden der nationalen Krankenversicherung wurden überhört, die die Kosten des Medikaments zu 65 Prozent erstattete.

    Schließlich deckte die bretonische Lungenärztin Irène Frachon nach einer langwierigen Analyse mehrerer Fälle den Zusammenhang zwischen der Einnahme des Medikaments und Herz-Lungen-Problemen auf. „Ich konnte es nicht fassen, als ich die Interessenskonflikte zwischen der Welt der Medizin, der Verwaltung und der Politik sah“, sagt sie. Im Jahr 2010 hatte Frachon das Buch „Mediator, wie viele Tote?“ veröffentlicht.

    Im Herbst 2009 war Mediator dann in Frankreich gestoppt und sechs Monate später vom Markt genommen worden. Bis zum 30. August 2019 hat Servier 3732 Personen eine Entschädigung in Höhe von insgesamt 164,4 Millionen Euro zugesagt und einen Großteil davon bereits überwiesen. Der Konzern fordert, dass der französische Staat 30 Prozent davon übernimmt.

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