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Prozess: Wie ein Apotheker mit dem Leben tausender Krebspatienten spielte

Prozess

Wie ein Apotheker mit dem Leben tausender Krebspatienten spielte

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    Der Skandal lässt Bottrop nicht los. Einwohner bei einem Protestmarsch durch die Innenstadt, vorbei an der Apotheke, die Peter S. gehörte.
    Der Skandal lässt Bottrop nicht los. Einwohner bei einem Protestmarsch durch die Innenstadt, vorbei an der Apotheke, die Peter S. gehörte. Foto: Fabian Strauch, Funke Foto Services

    Zum Beispiel Andrea. Sie starb im Hospiz. Mit 50 Jahren, wenige Wochen, bevor Peter S. verhaftet wurde. Die Familie hat am Jahrestag ihres Todes eine Erinnerungsanzeige in der Zeitung veröffentlicht. Aus den Worten spricht tiefe Verbitterung: „Unserer ’Drea konnte keiner mehr helfen.“

    Peter S. hätte ihr helfen können. Vielleicht. Wer weiß das schon bei einer Krebserkrankung. Zumindest hätte er seinen Teil dazu beitragen können, das ist ja sein Job als Apotheker. Erst recht als Betreiber einer Onkologie-Schwerpunktapotheke, was er damals war. Davon gibt es an die 200 in Deutschland. Ein Schwerpunkt-Apotheker kauft die für eine Therapie nötigen Wirkstoffe ein, mixt je nach Verordnung ein individuelles Präparat zusammen und liefert es ans Krankenhaus oder an einen niedergelassenen Arzt. Die Kosten rechnet er dann mit der Krankenkasse ab; die zahlt noch was drauf, das ist dann sein Gewinn.

    Peter S. besaß eine solche Lizenz dafür, Krebsmedikamente, vor allem Chemotherapien, herzustellen. Nur: Wenn das alles stimmt, was die Staatsanwaltschaft ihm heute vorwirft, dann hat er seinen Job auf übelste Art und Weise missbraucht. Und wäre verantwortlich für einen der größten Medizinskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte.

    Dieser Mann, 47, in seiner Heimatstadt Bottrop im Ruhrgebiet jahrelang als Gönner und Wohltäter gefeiert, sitzt seit einem Jahr in Untersuchungshaft – und ab Montag auf der Anklagebank. Dann muss das Landgericht Essen Antworten auf eine entscheidende Frage finden: Hat Peter S. aus Geldgier das Leben anderer aufs Spiel gesetzt?

    Die Anklageschrift ist 820 Seiten dick

    Die Anklageschrift ist 820 Seiten dick. Darin steht: S. soll zwischen dem 1. Januar 2012 und dem 29. November 2016, dem Tag seiner Verhaftung, in sage und schreibe 61.980 Fällen gegen das Arzneimittelgesetz verstoßen haben. In der Art, dass er vor allem Chemotherapien zu schwach dosiert oder unter unzureichenden hygienischen Bedingungen hergestellt haben soll.

    Die Zahl von 61.980 beruht auf Schätzungen und bezieht sich auf die zu geringe Menge an Wirkstoffen, die der Angeklagte bei den Lieferanten gekauft hat – gemessen an der Zahl der Präparate. In der Praxis soll sein Vorgehen so ausgesehen haben: S. kaufte viel weniger von den erforderlichen Wirkstoffen als nötig, panschte das Medikament, rechnete mit der Krankenkasse aber die volle Menge der Wirkstoffe ab. So erhöhte sich sein Gewinn massiv.

    Daher wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor, 59 Monatsabrechnungen manipuliert zu haben. Heißt: 59-facher Betrug. Schaden für die Krankenkassen: rund 56 Millionen Euro, die sich Peter S. in die eigene Tasche gesteckt haben soll. Das ist, wenn man so will, der eher unemotionale Teil seines Vergehens, wenn es ihm denn nachgewiesen wird.

    Was diesen Fall aber so unfassbar macht, ist das Leid, das er, nach allem, was man bislang weiß, damit angerichtet hat. Peter S. hat dutzende Ärzte in fünf Bundesländern beliefert; Bayern soll nach bisherigen Erkenntnissen nicht darunter gewesen sein. Laut Anklage erhielt eine „niedrige vierstellige Zahl von Patienten“ seine Mittel. Medienberichten zufolge könnten es mehr als 4000 sein. Es sieht also so aus, dass teils schwer Krebskranken Chemotherapien oder andere Medikamente verabreicht wurden, die kaum oder gar keine Wirkung zeigten.

    Heißt dies nun, dass Peter S. womöglich für hunderte, ja tausende Todesfälle verantwortlich ist? Kann man ihm ein Tötungsdelikt anlasten? Es ist ja tatsächlich so, dass seitdem viele der Patienten gestorben sind. Genau hier steckt die Schwierigkeit in dem Verfahren. In den allermeisten Fällen wird man dem Angeklagten nicht nachweisen können, wem er welchen Schaden zugefügt hat. Peter S. soll teilweise auch korrekt dosierte Medikamente ausgeliefert haben. Aber die sind genauso wie die gepanschten längst verbraucht und die Infusionsbeutel vernichtet. Wie will man also im nachhinein die Arzneimittel den Patienten zuordnen?

    Die Ermittler machten dann doch einen Fund

    Eine Ausnahme gibt es allerdings. Die Ermittler haben bei einer Razzia 116 fertige Medikamente sichergestellt, die noch nicht verschickt worden waren. 27 davon soll Peter S. hergestellt haben. Die wurden untersucht. Ergebnis: Zu einem Großteil enthielten sie zu wenige oder gar keine Wirkstoffe. Für die Anklage bedeutet dies also auch 27 Fälle von versuchter Körperverletzung. Weil der Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz und der Betrug nicht moralisch, aber rechtlich betrachtet die schwerwiegenderen Delikte sind, findet der Prozess in Essen vor einer Wirtschaftsstrafkammer statt.

    Für die Krebspatienten, die noch am Leben sind, ist dies alles ein Albtraum. Sie hatten ihre Hoffnung in ein Medikament gelegt, das sie retten sollte, und waren am Boden zerstört, als sie spürten, dass es nicht anschlug. Im Gegenteil, bei manchen nahmen die Beschwerden sogar zu und die Tumormarker stiegen statt zu fallen. Nun diese unglaubliche Geschichte. Hätte sie verhindert werden können? Fest steht, schon 2013 gab es einen Verdacht gegen S. Aber die Ermittlungen wurden eingestellt. Die Sprecherin der Staatsanwaltschaft sagt: „Aus heutiger Sicht ist natürlich der Verlauf des damaligen Verfahrens als bedauerlich zu bezeichnen.“

    Eine 73-Jährige aus Gladbeck, die ungenannt bleiben will, weiß aus der Anklageschrift, dass ihre Krebsmedikamente zu wenige Wirkstoffe enthielten. Sie wird als Nebenklägerin auftreten, als eine von neun, auch wenn sie wegen „des ganzen Trubels“ nicht persönlich erscheinen will. Ihr Anwalt Hans Reinhardt sagt: „Sie vermisst, dass der Apotheker zur Aufklärung beiträgt. Das findet sie besonders verwerflich.“ In der Tat schweigt Peter S. bislang zu den Vorwürfen. Unmittelbar vor Prozessbeginn sagt Peter Strüwe, einer seiner vier Verteidiger: „Im Moment geben wir keine Erklärung ab.“ Was am Montag geschehen wird, lässt er offen.

    In der Stadt mit ihren knapp 120.000 Einwohnern ist die Erschütterung über den Fall seit vielen Monaten greifbar. „Es gibt kaum einen Menschen in Bottrop, der nicht das eine oder andere Opfer persönlich kennt“, sagt Gesundheitsdezernent Willi Loeven. Heike Benedetti, die an Brustkrebs leidet, versucht die Betroffenheit zu bündeln. Zweimal schon hat sie Demonstrationen organisiert, direkt vor der Apotheke in der Innenstadt – dem „Tatort“, wenn man so will. Die dritte soll zwei Tage nach dem Prozessbeginn stattfinden. Während ihrer Behandlung hat sie sich mit anderen Patientinnen angefreundet. Alle erhielten ihre Medikamente aus der Apotheke von Peter S. Von zehn Frauen leben noch fünf.

    Bei einer der Demos trägt eine Frau ein Schild um den Hals, auf dem steht: „Meine Mutter ist tot. Peter, welches Recht hattest du, Gott zu spielen?“ Und auf kriminelle Weise ein Millionenvermögen anzuhäufen. Zumindest erklärt es sich nun, wie der geschiedene Mann sich im Stadtteil Kirchhellen eine Villa leisten konnte, die er allein mit seinem Hund bewohnt – mitsamt Wasserrutsche, so berichten Medien, die ihm den Weg vom Badezimmer direkt in den Swimmingpool erleichtert. So wirklich passt der kantige, an einen Bunker erinnernde Bau nicht in die ländliche Gegend, in Nachbarschaft eines alten Fachwerkhauses. Rund zehn Millionen Euro soll er dafür bezahlt haben.

    Der Angeklagte sammelte Geld für ein Hospiz - für Krebskranke

    Was die Menschen in Bottrop noch viel mehr umtreibt, ist, dass Peter S. in der Stadt ein bekannter Mann ist. Er hat die Apotheke von seinen Eltern übernommen, ein Familienunternehmen seit 80 Jahren. Er beschenkte den Oberbürgermeister mit einem Kunstwerk, investierte Geld in Projekte, die die Stadt nicht finanzieren konnte, trat sogar als Wohltäter auf, indem er für ein Hospiz sammelte. Ein Hospiz für Krebskranke. Warum sollte man einem solchen Mann misstrauen?

    Irgendwann dann doch. Zumindest Martin Porwoll. Es war ein Abend kurz nach Karneval, als er zum „Verräter“ wurde. „Whistleblower“ sagt man heute: einer, der „etwas auffliegen lässt“, oder noch direkter: der jemanden „verpfeift“. Eigentlich hatte Porwoll nichts weiter getan als gerechnet, lange nach Feierabend, und dann war es, „als ob ein Fallbeil runterfällt“, „Hurra!“ und „Scheiße!“ zugleich. Die Rezepte in der Apotheke, deren kaufmännischer Leiter er war, passten nicht zusammen mit den abgerechneten Wirkstoffen. Also doch!

    „Wenn, dann richtig“: Martin Porwoll sagte gegen seinen früheren Chef Peter S. aus. Heute arbeitet er nicht mehr in der Apotheke.
    „Wenn, dann richtig“: Martin Porwoll sagte gegen seinen früheren Chef Peter S. aus. Heute arbeitet er nicht mehr in der Apotheke. Foto: Fabian Strauch, Funke Foto Services

    Porwoll, 46, dachte mit pochendem Herzen an seinen Chef: „Du kamst dir so schlau vor, aber jetzt habe ich dich erwischt.“ Er dachte aber auch an die Konsequenzen: daran, dass er seine Arbeit verlieren würde, an die Kollegen in der Apotheke, wo sie wie eine Familie waren. Es war Entsetzen und Genugtuung zugleich. Aber es gab keinen Weg zurück: „Wenn, dann richtig“, sagte er sich. „Jetzt musst du auch den nächsten Schritt machen.“

    Am Ende hat eine Kollegin für den entscheidenden Hinweis gesorgt: Marie Klein. Der pharmazeutisch-technischen Assistentin war das Verhalten ihres Chefs seltsam vorgekommen. Wenn er etwa mit Straßenkleidung ins sterile Labor latschte. Irgendwann steckte sie einen Infusionsbeutel ein und brachte ihn zur Polizei. Die Ermittler bestätigten früh: Er war leer. Reine Kochsalzlösung. „Ein Glückstreffer“, sagt Porwoll, obwohl es das Gegenteil war. Vier Wochen später wurde Peter S. verhaftet.

    Zwei Tage danach bekam Martin Porwoll die Kündigung. Auch Marie Klein wurde arbeitslos. Aber hat in der Apotheke sonst niemand etwas bemerkt, wenn der Chef hinter verschlossenen Türen mixte? Nach Medienberichten ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen zwei Laborantinnen, unter anderem wegen Beihilfe zum Betrug. Bestätigt ist das nicht.

    Gleich gegenüber der Apotheke prangt noch immer der Werbeslogan von Peter S., der mehrere Häuser in der Fußgängerzone zu Ärztehäusern umgebaut hat. Der Spruch heißt: „Weil Gesundheit ein Geschenk ist.“

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