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Russland: Wo Öl und Gas die Fische vertreiben

Russland

Wo Öl und Gas die Fische vertreiben

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    Ruslan Njawan ist 365 Tage im Jahr zum Fischen draußen. Zuerst aber muss er Eislöcher freischlagne.
    Ruslan Njawan ist 365 Tage im Jahr zum Fischen draußen. Zuerst aber muss er Eislöcher freischlagne. Foto: Philipp Hannappel/Timo Jaworr

    Der Wind kommt von Westen. Er weht eisig. Unbarmherzig. So, wie sich minus 45 Grad wohl anfühlen müssen. Ruslan Njawan hat gerade die letzte dünne Eisschicht aufgeschlagen. Das Meer pulsiert. Er streift sich seine knallorangen Gummihandschuhe über, nimmt das Netz, zieht die Handschuhe bald wieder aus, greift ins Wasser. Ruslan Njawan zieht wieder fester am Netz, hievt die Ladung hoch. Dann ärgert er sich. Über das gerissene Seil am Netz, über die kleinen Fische. Die wenigen.

    Ruslan Njawan steht oft hier, in der Pomr-Bucht am Ochotskischen Meer. Er ist auf Sachalin zu Hause, Russlands größter Insel, knapp 10.000 Kilometer von Moskau entfernt, wo die Winter frostig und lang und selbst die Sommer kühl sind.

    Seit Njawan laufen kann, ist die Fischerei sein Leben – mit ausgeworfenen Netzen, mit Angeln im Eisloch. Schon die Vorfahren des 49-Jährigen hatten schon so gelebt. Hatten Lachse gefischt, Stinte, Dorsche. Hatten Beeren gesammelt und Robben gejagt. Ruslan Njawan ist ein Niwch. „Mensch“ heißt es in seiner oft weit im Rachen gebildeten Sprache, mit allerlei gehauchten, auch nasalen Tönen.

    Die Region ist eine der wohlhabendsten Russlands

    Das „Land der Ahnen“ nennen Niwchen die Insel Sachalin. In ihrer Sprache heißt das zugleich „am Rande der Welt“. Hier, so sagt es die Wissenschaft, sollen bereits vor 12.000 Jahren Niwchen gesiedelt haben, ein lange isoliertes Volk. Schon immer lebten die Menschen hier vom Fisch. Nur: Davon gibt es immer weniger.

    Das liegt vor allem an den immensen Öl- und Gasvorkommen, die vor der Küste entdeckt wurden. Doch die Bodenschätze sind für die Insel Segen und Fluch zugleich. Sachalin gehört zu den wohlhabendsten Regionen des Landes. Knapp fünf Prozent des weltweit produzierten Flüssigerdgases (LNG) werden hier verarbeitet. Doch nur zwei Prozent der Einnahmen bleiben auch hier.

    Inzwischen müssen die Fischer um ihre Lebensgrundlage kämpfen. Die teils veraltete Technik mancher Erdölförderer und das Vergraben moderner Gasrohre hat die Fischpopulation drastisch sinken lassen, sagen Umweltschützer. Und dass die großen Fischereibetriebe ihre Netze weit draußen im Meer auswerfen.

    Die Niwchen leben von dem, was übrig bleibt. Am Ende dieses Donnerstagsfangs, nach knapp drei Stunden Schneeschaufeln, Eisaufschlagen, Netzziehen, nach der Kontrolle von drei Eislöchern, je zwei mal ein Meter groß, stehen Ruslan Njawan und sein Bruder Michail, so robust und rau wie die Natur um sie herum, vor einem Holzschlitten voller Fisch. In der Ferne sind Hundegebell und Motorengeräusche von Schneemobilen zu hören. „Kein guter Fang“, sagen die Männer. Wie das fast alle sagen in Nekrassowka, dem Ort, in dem die meisten der weltweit etwa 3200 Niwchen zu Hause sind.

    10.000 Kilometer sind es von Moskau aus nach Sachalin

    Wer von Moskau aus in das Dorf im äußersten Osten des Landes gelangen will, muss neun Stunden Flug auf sich nehmen, eine Nachtfahrt im Zug, vier Stunden in einem Bus, etwa eine in einem anderen. An die 1000 Menschen leben hier, 700 davon sollen Niwchen sein. Hinzu kommen andere Indigene – Russen-Niwchen, Ainu, Ewenken, Nanaier, Uilta oder „irgendwie alles zusammen, nur Gott weiß, wer da was ist,“ sagen die Bewohner und lachen.

    Ein kleiner Wald teilt die Siedlung mit elf Straßen, fünf Lädchen, einer Apotheke, der Internatsschule, einer aufgegebenen Kolchose und einem Jugendklub, der seit fünf Jahren im Bau ist. Eine große Unsicherheit erfasst hier die Menschen: „Ohne das Meer, ohne den Fisch – was sind wir dann?“, fragen sie sich. Auf Russisch. Das Niwchische ist schon so gut wie weg, die Sowjetzeit hat es zugrunde gerichtet, die Lust auf Wiedergeburt verspüren nur einige Enthusiasten. Jeder sucht seine Antwort und will vielfach nur eines: auf dem Boden seiner Ahnen leben.

    „Der Fisch ist unser Leben. Unsere Nahrung, unser Einkommen, unser Auskommen“, sagt Alexandra Njawan, die Frau des Fischers Ruslan, in ihrem Haus. Sie hat Stinte gebraten, Erbsensuppe gekocht und eingelegtes Gemüse auf den Tisch gestellt. Ruslan ist noch beim Fischen, aber er könnte jederzeit nach Hause kommen. Die Gasflamme in ihrem Ofen lodert. An den Wänden hängen Familienfotos – die Kinder, die Enkel, an der Küste, im Boot. Die 52-Jährige holt Bücher hervor und Karten. Sie greift zum Stift, zeichnet Pfeile und Kreise. Erklärt, welchen Weg der Lachs zurücklegt, wo welche Bohrtürme stehen. „Alles niwchische Erde.“

    50 Kilogramm Dorsch im Jahr erlaubt die Regierung jedem Niwchen. Dazu 90 Kilogramm Buckellachs (etwa 45 Fische) und 210 Kilogramm Ketalachs (etwa 70 Fische). Die festgelegten Quoten sind höher als die für die Mehrheitsbevölkerung. Dennoch: Sie seien zu niedrig, davon sind nicht nur die Niwchen überzeugt. „Damit können wir unser Leben nicht bestreiten“, sagt Alexandra Njawan. In so manchem Winter verdient die Familie mit dem Fischverkauf umgerechnet gerade einmal 160 Euro. Selbst für Nekrassowka zu wenig.

    Die Entschädigung durch das Konsortium Sakhalin Energy, das vom russischen Gasriesen Gazprom kontrolliert wird, sei armselig. „Nicht einmal 100 Dollar pro Person im Jahr? Dafür, dass sie unsere Ressourcen zerstören?“ Die Flüsse, erklärt die gelernte Zahnarzthelferin, seien durch Öl verdreckt, der Zugang zum Meer sei zudem durch den Fischereimonopolisten der Insel nahezu versperrt. Es kommt zu Zusammenstößen mit den Wachmännern der Fischindustrie, kommt zu Demonstrationen gegen die Ölförderer. Es kommt zu Gewalt, wie so oft in Russland, wenn sich Protest regt. „Schuld sind dann immer wir. Wir sind die Wilderer, wir töten den Fisch“, sagt Alexandra Njawan.

    Der Artikel 69 der russischen Verfassung besagt, dass „Völker, die in den traditionellen Siedlungsgebieten ihrer Vorfahren auf traditionelle Weise leben, ihrer traditionellen Wirtschaftsweise nachgehen, innerhalb der Russischen Föderation nicht mehr als 50.000 Angehörige aufweisen und sich selbst als eigenständige Gemeinschaften verstehen“, als „Kleine indigene Völker des Nordens“ zu sehen sind. Als solche sind sie von der Grundsteuer befreit, auch vom Militärdienst, haben einen bevorzugten Zugang zu natürlichen Ressourcen, können für die Förderung von Bodenschätzen in ihren Gebieten entschädigt werden und dürfen früher in Rente. Privilegien, die den Neid der restlichen Bevölkerung mit sich bringen.

    Es ist vor allem das Wörtchen „traditionell“, das Probleme schafft. Was traditionell ist, wird im Gesetz nicht definiert. Für die meisten Russen bedeutet es, dass die Niwchen mit Netzen aus Brennnesseln fischen, mit Hundeschlitten unterwegs sind, Kleider aus Fischhaut tragen und in Blockhütten auf Pfählen leben. So ein Leben aber kannte schon Alexandra Njawan nicht, die sich für „traditionelles niwchisches Leben“ einsetzt. Für Fischer ohne Quote.

    An sich, so sagt Dmitri Lisizyn 900 Kilometer von Nekrassowka entfernt, sollten die Indigenen so viel Fisch fangen können, wie sie zum Leben brauchen. Dafür aber dürften die anderen weniger fangen. Nur ist das nicht so. In Juschno-Sachalinsk, dem Hauptort der Insel, setzt sich der 51-Jährige seit den 90er Jahren für den Naturschutz ein – und vor allem für den Lachs. „Der Pazifiklachs schafft das Ökosystem unserer Insel.“

    Auf den Feldern bilden sich Ölseen

    Seien die Laichplätze der Lachse bedroht, stehe es auch um die Natur der Insel schlecht. Die größte Gefahr dabei: Verschmutzung des Wassers durch Erdöl und Überfischung. Gerade Rosneft, der größte Erdölproduzent der Welt, der im Norden der Insel durch seine Tochterfirmen etliche Bohranlagen betreibt, sei – durch das lange sowjetische Erbe bedingt – eine „gruselige Angelegenheit“, wie Lisizyn sagt. Das Öl sickere in den Boden, es gebe zuweilen Ölseen auf den Feldern, aus den Pumpen tropfe einmal mehr, einmal weniger Öl. Man fordere von den Firmen neue Technologien, sagt er. „Aber es ändert sich nur langsam.“

    Lisizyn springt auf, holt Karten herbei, mit farbigen Ecken sind die Öl- und Gasfördergebiete Sachalins darauf eingezeichnet, die Insel ist umringt von gelben, rosa und orangen Flächen. „Dieses Problem hat der Staat im Griff“, sagt er. „Nicht aber das Problem mit der Überfischung, mit der Wilderei.“ Das belegen schon die Zahlen: 2009 waren auf Sachalin noch 250.000 Tonnen Buckellachs gefangen worden. Für 2019 sei lediglich mit 7500 Tonnen zu rechnen, heißt es in den Prognosen. Der Lebensraum für den Lachs schwinde, sagt Lisizyn.

    Im Norden der Insel klingt das so ähnlich, in Nekrassowka, wo Ruslan Njawan vom Fischen zurückgekehrt ist und neben seiner Frau in der Küche sitzt. Was das für ihn und die Niwchen bedeutet? „Ohne den Fisch, ohne das Meer, ohne das Fischen…“ Ruslan Njawan, der wortkarge Mann, kommt ins Stocken. „Ohne das Fischen ist es einfach kein Leben.“

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