Paris ist für eine Überraschung gut – nicht einmal, nicht zweimal, sondern immer wieder. Bei jedem Besuch in einem Viertel der französischen Metropole, das man ein paar Wochen oder Monate nicht gesehen hat, bietet sich eine neuerliche Veränderung. Vor dem Rathaus wie auch am Place du Colonel Fabien im Nordosten entstehen „Stadt-Wälder“ mit insgesamt 250 neu gepflanzten Bäumen. Der bisher asphaltierte Platz am Trocadéro, von dem sich ein direkter Blick auf den Eiffelturm am gegenüberliegenden Seine-Ufer bietet, wird begrünt, die dazwischen liegende Brücke Pont d’Iéna für den Autoverkehr gesperrt.
Es ist ein spektakulärer Wandel im Gange, ständig tauchen neue Radwege auf
Seit Jahren unterliegt die Stadt einem permanenten, deshalb nicht weniger spektakulären Wandel. Ständig tauchen weitere Radwege auf, während der Raum für Autos kontinuierlich schrumpft. Für Verblüffung sorgte es noch, als während der Corona-Pademie 2020 ausgerechnet die Rue de Rivoli für den Autoverkehr mit Ausnahme von Taxis, Bussen, Kranken- und Feuerwehrwägen sowie Anwohnern gesperrt wurde – eine der Hauptachsen im Zentrum, drei Kilometer lang, die am Louvre vorbei bis zum Concorde-Platz führt: So weit also wagte sie zu gehen, die Bürgermeisterin Anne Hidalgo?

Sie ging sogar noch weiter, denn was zunächst als Experiment galt, ist zur Dauersituation geworden. Hier können sich Radfahrer regelrecht austoben, so viel Platz haben sie. Zu Stoßzeiten überwachen Polizisten die Einhaltung der Verkehrsvorschriften. Wie viele Fußgänger, ausgenommen regeltreue deutsche Touristen, haben auch Radfahrer in Paris die Tendenz, eine rote Ampel eher als unverbindliche Empfehlung anzusehen denn als strikte Anweisung. Doch anders als die Flaneure zu Fuß werden sie durchaus sanktioniert. Inzwischen gibt es auch gesonderte Radspuren auf der Pracht-Avenue Champs-Élysées oder der hektischen Avenue de l’Opéra, und wer sozusagen einen großen Bogen um Paris machen möchte, kann das durchgängig auf Fahrradwegen tun.
Der Place de la Concorde selbst wurde nach den Olympischen Sommerspielen 2024, als hier die Wettkämpfe in urbanen Sportarten ausgetragen wurden, teils verkehrsberuhigt. Eine neue Straßenführung macht die Überquerung des größten Platzes von Paris für Radler weniger gefährlich, um nicht zu sagen: relativ sicher. Relativ, denn die hohe Zahl an Verkehrsteilnehmern und der unebene Belag aus Kopfsteinpflaster mahnen zu ständiger Wachsamkeit.
Am abenteuerlichsten sind die vielen Rad-Lieferbooten unterwegs
Generell müssen sich Radfahrer nur noch selten Spuren mit Taxis und Bussen teilen, auch ist inzwischen am Fahrstil der Autos erkennbar, dass sie sich an die Anwesenheit dieser Verkehrsteilnehmer gewöhnt haben. Dennoch ist weiterhin Vorsicht angesagt. Etliche Fußgänger vertrauen darauf, dass alle anderen schon anhalten werden, wenn sie quer über eine Straße marschieren. Immer wieder überholen Elektroroller rechts. Am abenteuerlichsten sind die vielen Rad-Lieferbooten unterwegs, die in ihrer Zeitnot riskante Manöver versuchen. Vor allem zu den Stoßzeiten liegt mitunter eine aggressive Stimmung in der Luft. Groß war das Entsetzen, als im Oktober 2024 ein 27-jähriger Radfahrer in einen Streit mit einem Autofahrer geriet, der ihn daraufhin überrollte und dabei tötete. Der junge Mann war Mitglied in einem Rad-Verein und galt als Opfer im unerbittlichen Kampf um den Platz auf der Straße.
Die Velos haben dabei die Unterstützung des Rathauses. Insgesamt 1000 Kilometer Radwege wurden seit 2014 ausgebaut. Der aktuelle „Fahrrad-Plan“ von 2021 bis 2026 mit einem Budget von mehr als 250 Millionen Euro sieht 180 Kilometer weitere Extra-Spuren vor. 130.000 zusätzliche Parkmöglichkeiten sollen entstehen, darunter 40.000 besonders gesicherte Plätze. Die Sozialistin Hidalgo macht Ernst mit dem Ziel, die französische Metropole konsequent zu einer Fahrradstadt umzubauen, allem Widerstand der Autofahrer-Lobby, der konservativen Opposition oder einigen Geschäftstreibenden zum Trotz.
Der Verein „40 Millionen Autofahrer“ ist auf Kriegsfuß mit der „Autokratin“ Hidalgo. Als 2024 die Maximalgeschwindigkeit auf der Ringautobahn Boulevard Périphérique von 70 auf 50 Kilometern pro Stunde gesenkt wurde, klagte die „Verteidigungsliga der Autofahrer“ über den „wachsenden Frust“ gegenüber deren „Anti-Auto-Kurs“. Nachdem die Bürgermeisterin im Frühjahr 2024 die Stadtbewohner über die Verdreifachung der Parkgebühren für SUVs abstimmen ließ, kritisierte die konservative Oppositionsführerin im Stadtrat, Agnès Evren, dieses Votum als „auf schlimmste Weise ideologisch motiviert“. Dieses habe die ohnehin hoch verschuldete Stadt 400.000 Euro gekostet, während sich nur gut fünf Prozent der Wahlberechtigten beteiligten. Es war der Versuch Hidalgos, die Menschen mitzunehmen bei ihrer Politik, die sie sonst oft resolut und kompromisslos durchsetzt.

Einen Teil davon übernahm sie von ihrem Vorgänger Bertrand Delanoë, einem Parteifreund, dessen rechte Hand sie lange war. Es galt als Sensation, als er ab 2013 einen ersten Abschnitt der bis dahin viel befahrenen Uferstraßen der Seine für den Autoverkehr sperren ließ. Diesen Weg ging Hidalgo seit ihrer Wahl 2014 weiter, inzwischen sind beide Fluss-Seiten verkehrsberuhigt. Wer auf der autofreien Strecke allerdings schnelle und freie Durchfahrt möchte, sollte nicht an sonnigen Tagen oder lauen Abenden kommen. Dann tummeln sich hunderte Menschen auf der Straße, es gibt Bars, Livemusik, Sportgeräte, einen Spielplatz für Hunde und einen für Kinder. Die einstige Schnellstraße im Herzen von Paris ist zur Freizeit- Flanier- und Feierzone geworden.
Rund 60.000 Parkplätze sind verschwunden, Geschwindigkeitsbegrenzungen wurden eingeführt
Was heute als selbstverständlich gilt, hat Hidalgo mit ihrer rot-grünen Mehrheit hart erkämpft. Die Verkehrspolitik, mit der sie die Autos aus der Stadt drängt, gilt seit mehr als zehn Jahren als ihre Priorität. Seit 2017 werden nach und nach alte und stark verschmutzende Autos im Stadtgebiet verboten. Rund 60.000 Parkplätze verschwanden. Geschwindigkeitsbegrenzungen wurden eingeführt, zusätzlich Ampeln aufgestellt. Es entstanden mehrere Fußgängerzonen oder Bereiche mit stark eingeschränktem Verkehr, darunter die ersten vier Arrondissements mit dem Marais-Viertel und den beiden Seine-Inseln. Für den Kauf eines Elektro-, Cargorads oder für Fahrkurse bieten Paris und die Hauptstadtregion Subventionen von bis zu 500 Euro an. Zugleich gibt es mehrere Anbieter für Leihräder. Allein das städtische System „Vélib“ zählt 60.0000 Abonnenten und hat 1006 Stationen in Paris und 400 weitere in den Vororten aufgestellt.
Tatsächlich ist die Fortbewegung auf dem Fahrrad oft die schnellste in Paris. Wo Autos sich lange stauen, haben Räder freie Durchfahrt, bisweilen sogar an Ampeln. Kleine Dreiecke zeigen dort an, wenn sie auch über Rot fahren dürfen. In vielen Einbahnstraßen haben sie die Erlaubnis, in beide Richtungen unterwegs zu sein.

Dieses Bündel an Maßnahmen zeigt Wirkung: Die Anzahl der Radnutzer nimmt in Paris stetig zu, während jene der Autos sinkt, der aktuellsten Statistik zufolge um 54 Prozent zwischen 2002 und 2023. Die durchschnittliche Fahrgeschwindigkeit – der Autos, wohlgemerkt – betrug nur noch 11,3 Stundenkilometer. Im vergangenen Jahr erfolgten 11,2 Prozent aller Transportwege auf dem Rad, gegenüber 4,3 Prozent mit dem Auto. David Belliard, Grünen-Politiker und im Rathaus für Transport und Mobilität zuständig, freute sich über diese „große erste Etappe“, wie er triumphierend sagte: „Wir sind dabei, den öffentlichen Raum zu transformieren.“
Auch Touristen, in kleinen und manchmal auch größeren Gruppen, bewegen sich immer öfter radelnd durch die Stadt. In ihrem beim DuMont-Verlag erschienen Reiseführer „Paris mit dem Rad“ informiert die deutsche Journalistin und Autorin Felicitas Schwarz Grammon über Ausleihmöglichkeiten vor Ort und stellt zwölf Strecken-Ideen vor – von einer „Highlight-Tour“ über einen Trip an den Kanälen entlang bis ins „Pariser Manhattan“. Das Buch legt den großen Vorteil für Radfahrer im flächenmäßig überschaubaren Paris offen: In relativ kurzer Zeit kann eine Vielzahl an Sehenswürdigkeiten, Vierteln, Straßen kennengelernt und dadurch die Vielfalt der Stadt und ihrer Umgebung erfasst werden.
Anne Hidalgo nannte es vor kurzem „absolut unerlässlich“, ihre „sanfte Revolution“, wie sie es ausdrückte, fortzuführen. Sie argumentiert mit der erfolgreichen Reduzierung von Lärm und mit der Verbesserung der Luftqualität. Tatsächlich hat sich laut der mit der Messung betrauten Agentur Airparif die Konzentration von Stickstoffdioxid und Feinstaub zwischen 2013 und 2023 um rund 40 Prozent verringert. Sie liegt aber immer noch über den von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Höchstwerten.
An den Bürgervoten über die Verkehrsberuhigung beteiligen sich nur wenige
Hidalgo ist zwar nicht unumstritten, wird vor allem für stark gestiegene lokale Steuern und mangelnde Sauberkeit in den Pariser Straßen kritisiert, sagt der Meinungsforscher vom Umfrageinstitut Ipsos, Brice Teinturier. „Aber hinsichtlich ihrer Verkehrspolitik wird sie positiv bewertet.“ In einer Umfrage sagten 27 Prozent der Menschen in Paris, sie tue das Richtige, 23 Prozent befanden, es sei sogar nicht genug. Dabei macht sie immer weiter: Im Frühjahr ließ sie ein weiteres Bürgervotum über die Verkehrsberuhigung von 500 Straßen abstimmen. Erneut beteiligten sich nur sehr wenige, doch das Vorhaben wurde abgesegnet.
Da sie bei den nächsten Wahlen 2026 nicht mehr für ein drittes Mandat kandidiert, hat ihre langjährige Gegenspielerin Rachida Dati gute Chancen, ihre Nachfolgerin zu werden. Zwar verspricht die konservative Ex-Justizministerin, aktuelle Kulturministerin und Stadtteil-Bürgermeisterin des schicken siebten Arrondissements, die bisherige Verkehrspolitik und speziell einige ihrer Großprojekte zu überdenken. Kurz darauf stellte ihre Fraktion im Stadtrat aber klar, dass sie die Verkehrsberuhigung der Seine-Ufer, welche zum Weltkulturerbe der Unesco gehören, nicht in Frage stelle. Die Episode zeigte: Es gibt kein Zurück mehr. Die grüne Revolution von Paris ist zu weit fortgeschritten, um sich noch ausbremsen zu lassen.
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