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Krieg gegen die Ukraine: Wie weit geht das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung?

Krieg gegen die Ukraine

Wie weit geht das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung?

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    Ein Soldat der 3. Separatistenbrigade der Ukraine blickt aus einem Schützengraben. Die Kämpfe gehen nur langsam voran, die Ukraine bittet um mehr Waffen.
    Ein Soldat der 3. Separatistenbrigade der Ukraine blickt aus einem Schützengraben. Die Kämpfe gehen nur langsam voran, die Ukraine bittet um mehr Waffen. Foto: Libkos, dpa

    Diplomatische Phrasen sind ihre Sache nicht. Wenn es um die Ukraine geht, nimmt die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag schon lange kein Blatt mehr vor den Mund. „Auf was wartet der Bundeskanzler in Gottes Namen? Er alleine blockiert diese Entscheidung innerhalb der Koalition. Das ist verantwortungslos“, schreibt Marie-Agnes Strack-Zimmermann auf der Plattform X (bislang Twitter). Es ist eher ein Wüten. Aus den Zeilen klingen Anklage und Verzweiflung zugleich. „Diese Entscheidung“, das ist die Frage, ob Deutschland dem kriegsgebeutelten Land Taurus-Marschflugkörper zur Verfügung stellt.

    Seit Wochen schon ringt die Bundesregierung mit sich und schafft es doch zu keinem klaren Entschluss. Der Grund für das Hadern nicht nur des Kanzlers ist, dass die Raketen zwar helfen könnten, die ukrainische Offensive zu beschleunigen. Die Waffen aber eine Reichweite von 500 Kilometern haben und damit mühelos auch russische Städte erreichen können. Genau diese Beschränkung erlegt der Westen der Ukraine auf. Waffen ja, aber sie dürfen nicht gegen Ziele auf russischem Gebiet eingesetzt werden. Doch es wachsen die Zweifel an dieser Strategie.

    Hinter der Debatte um den Taurus-Raketen steckt eine Frage, die ganz elementare politischen Grundsätze der Bundesrepublik berührt: Wie weit geht das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung? Darf das Land zum eigenen Schutz und zur Schwächung des Kriegsgegners direkte Angriffe auf Russland wagen? So schwer das Thema politisch zu beantworten ist, so einfach lässt es sich zumindest aus rechtlicher Perspektive klären. Das Völkerrecht regelt explizit, dass die Ukraine im Kampf gegen den Aggressor Russland auch militärische Schläge auf dessen Staatsgebiet vornehmen darf. Nicht zulässig sind hingegen Angriffe auf zivile Ziele. 

    Juristisch gesehen darf die Ukraine russische Ziele angreifen

    Doch das internationale Völkerrecht ist für die deutsche Politik in Fragen rund um Krieg und Frieden eben längst nicht die einzige Richtschnur. Herfried Münkler ist einer der renommiertesten deutschen Politikwissenschaftler. Er beobachtet: „Die westliche Hilfe orientiert sich nicht wirklich an den Erfordernissen der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit, sondern an Stimmungen in Deutschland, die demoskopisch erhoben werden.“

    Das nutze die russische Seite gezielt aus, indem sie Befürchtungen vor einer Ausweitung des Krieges schüre. „Das ist eine Form der hybriden Kriegsführung“, sagt der Experte. „Die Angst der Politiker ist wahrscheinlich eher eine vor der nachlassenden Unterstützung durch die Bevölkerung als vor einem tatsächlichen russischen Handeln.“ Denn die Leistungsfähigkeit der russischen Armee sei ohnehin überschaubar. 

    Herfried Münkler lehrte Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität.
    Herfried Münkler lehrte Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Foto: Soeren Stache, dpa

    Die Hilferufe aus Kiew werden unterdessen dringlicher. Seit über 18 Monaten wehrt das Land die russische Invasion ab. Vor rund drei Monaten haben die Truppen von Präsident Wolodymyr Selenskyj mit ihrer lange angekündigten Gegenoffensive begonnen. Zwar gab es zuletzt Durchbrüche, doch insgesamt kommt sie eher schleppend voran. Auf etwas mehr als 250 Quadratkilometer insgesamt werden die ukrainischen Gebietsgewinne in der Zeit geschätzt. Zum Vergleich: Russland hält einschließlich der bereits seit 2014 annektierten Halbinsel Krim rund 100.000 Quadratkilometer ukrainischen Territoriums besetzt. Zudem wurde der geringe Raumgewinn der Ukraine mit hohen Verlusten bei den Soldaten erkauft. In einem Frontbericht ist von 25 Prozent Ausfällen bei einem der Sturmbataillone die Rede.

    Entscheidungen fallen nicht nur aus militärischen, sondern auch aus gesellschaftlichen Gründen

    „Auch durch die Art der westlichen Hilfeleistung wurde der Ukraine quasi ein Arm auf den Rücken gebunden“, sagt Münkler. Der Krieg verharre damit in einem asymmetrischen Kräfteverhältnis. Während die russische Gesellschaft weitgehend unbehelligt bleibt von den Kämpfen, greife Wladimir Putins Armee nicht nur die militärische und logistische Infrastruktur der Ukraine an, sondern auch beliebige zivile Ziele. Russland beschießt das Land mit Raketen, Marschflugkörpern, Drohnen und Artillerie. „Das Ziel ist, die Bereitschaft der Bevölkerung in der Ukraine so langsam erodieren zu lassen, indem man systematisch Angst und Schrecken verbreitet“, sagt Münkler. 

    Ist also Deutschland indirekt mitverantwortlich für den langen Verlauf des Krieges? Das glaubt zumindest Roderich Kiesewetter. Der Oberst a.D. ist Militärexperte der CDU. Er drängt seit Langem, die Ukraine mit besseren Waffensystemen auszustatten. „Der Krieg wird nur dann schnell beendet sein, wenn vom Westen das geliefert wird, was die Ukraine braucht“, appelliert der Bundestagsabgeordnete. Doch genau das bezweifelt er – und tatsächlich deutet kaum etwas auf einen Kursschwenk im Kanzleramt hin. „Die Bundesregierung lässt sich immer wieder neue Ausreden einfallen, um es nicht zu tun müssen“, sagt Kieswetter. „Die Lieferung von Taurus ist aber ein notwendiger Baustein, wenn man die Ukraine näher an einen Sieg oder zumindest in eine Verhandlungsposition der Stärke bringen will.“

    Scholz lasse sich von Putin einschüchtern. Die Folge sei, dass auch in diesem Winter die Angriffe gegen die zivile Infrastruktur in der Ukraine fortgesetzt würden. „Allein von Juli bis Ende November 2022 sind mehr als 35.000 zivile Ziele zerstört worden – von Brücken bis zu Kindergärten und Krankenhäusern“, sagt er. „Dem stehen nur etwa 320 militärische Ziele gegenüber.“ Scholz müsse daher endlich Farbe bekennen. Es reiche nicht, zu sagen, dass die Ukraine nicht verlieren dürfe. 

    Will Scholz nicht, dass die Ukraine den Krieg gewinnt?

    „Ich glaube nicht, dass man Bundeskanzler Scholz vorhalten kann, er wolle gar nicht, dass die Ukraine den Krieg gewinnt“, sagt Münkler. „Das halte ich für eine ziemlich absurde Vorstellung.“ Vieles sei gesellschaftlich, anderes parteipolitisch zu erklären. „Aber das führt dazu, dass aus diesem Krieg ein Erschöpfungskrieg geworden ist“, sagt auch der Politikwissenschaftler. Nützlich sei das vor allem für die russische Seite. Dort habe man ein ganz konkretes Datum vor Augen: den 5. November 2024. An diesem Tag findet in den USA die Präsidentschaftswahl statt. Bei einem Wahlsieg der Republikaner, so der Gedanke, könnten die Karten neu gemischt werden.

    Donald Trump kritisierte bereits mehrfach die hohen finanziellen und militärischen Aufwendungen zugunsten der Ukraine. „Im Ergebnis heißt das, dass erfolgversprechende Verhandlungen wohl erst nach der Präsidentschaftswahl in den USA möglich sein werden“, sagt Münkler. Würde die deutsche Politik strategisch denken, müsste sie deshalb deutlich mehr tun, um das Zeitfenster bis zur US-Wahl zu nutzen und der Ukraine zu einer besseren Verhandlungsposition durch Erfolge auf dem Schlachtfeld zu verhelfen. „Leider bin ich der tiefen Überzeugung, dass das Gros der deutschen Politiker zwar aus gewieften Taktikern, aber aus strategischen Dilettanten besteht“, resümiert er. 

    Und doch warnt Münkler zugleich vor einer vielleicht zu einfachen Rechnung: Dass westliche Waffensysteme automatisch zum „Gamechanger“ dieses Krieges werden könnten. Viele Waffen seien schlicht ein Ausgleich für den Verschleiß, die Vernichtung durch den Gegner. Sie erhöhten die Handlungsfähigkeit der Ukrainer, machten sie aber nicht übermächtig. „Etwas anderes wäre es, wenn wir sagen könnten, dass wir die Ukraine mit großen Mengen Artillerie-Munition ausstatten, mit mehreren Panzer-Brigaden“, sagt Münkler. „Aber dazu ist der Westen gar nicht in der Lage, weil er seine eigene Waffenproduktion nicht hinreichend hochgefahren hat.“ 

    Ukrainische Soldaten verstärken einen Graben an der Frontlinie.
    Ukrainische Soldaten verstärken einen Graben an der Frontlinie. Foto: Libkos, dpa

    Doch zumindest an einer Front kann die Ukraine einen Sieg für sich verbuchen – errungen aus eigener Anstrengung. „Wenn es Zweifel daran gegeben hat, dass die Ukraine ein eigenständiger, widerstandsbereiter und durchhaltefähiger Staat ist, dann hat Putin dafür gesorgt, dass die nun ausgeräumt sind“, sagt Münkler. „Er hat sich politisch verkalkuliert.“ Anders als noch 2014, als die Besetzung der Krim und der östlichen Gebiete für den Kreml fast zum Kinderspiel geworden waren, hat sich in den vergangenen Jahren in der ukrainischen Gesellschaft eine Verbitterung über das russische Agieren breit gemacht, die die Gesellschaft verändert hat. „Die Bereitschaft zum Selbstopfer ist durchaus erstaunlich im 21. Jahrhundert“, sagt der Politikwissenschaftler. „Ich hätte nicht gedacht, dass das in Europa noch einmal anzutreffen sein wird.“

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