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Leukämie: An der Grenze der Wissenschaft

Leukämie

An der Grenze der Wissenschaft

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    An der Grenze der Wissenschaft
    An der Grenze der Wissenschaft

    Von Rudi Wais Berlin. Die Wissenschaft ist nie vollkommen - und in diesem Fall schon gar nicht. Von 100 000 Kindern unter fünf Jahren erkranken in der Bundesrepublik jedes Jahr vier neu an Leukämie. Bei den 100 000 Kindern, die im Umkreis von fünf Kilometern um die deutschen Kernkraftwerke wohnen, sind es fünf bis sechs.

    Für Wolfram König, den Präsidenten des Bundesamtes für Strahlenschutz, ist die Sache damit klar: Kleinkinder, die in der Nähe eines Atommeilers leben, haben ein höheres Leukämie-Risiko. Ob das mit der Strahlung des Reaktors zu tun hat, wissen allerdings auch Experten wie er nicht. "Es gibt Hinweise", sagt König, "aber keine Beweise."

    Selten hat eine Studie Politik und Wissenschaft so im Unklaren gelassen wie die der Mainzer Professorin Maria Blettner. Für das Bundesamt hat sie untersucht, ob Kinder im Umfeld von Kernreaktoren häufiger an Krebs erkranken als in anderen Regionen. Fälle aus fast 24 Jahren hat sie dazu ausgewertet und nach den Worten ihres Auftraggebers die "weltweit aufwendigste" Analyse dieser Art vorgelegt.

    Wie sie zu deuten ist - das weiß die Fachwelt bislang jedoch nicht. Um die höhere Leukämie-Rate erklären zu können, müsste die radioaktive Strahlung um die Reaktoren herum mindestens 1000 Mal höher sein, als sie es tatsächlich ist. Im Regelbetrieb eines Kernkraftwerks, bestätigt Königs Abteilungsleiter Thomas Jung, sei die Strahlung "so gering, dass dadurch eigentlich kein Krebs ausgelöst werden kann."

    Die nackten Zahlen dagegen suggerieren genau das Gegenteil: Die Daten von mehr als 6000 Kindern haben Maria Blettner und ihre Mitarbeiter am Kinderkrebsregister in Mainz miteinander verglichen, knapp 1600 von ihnen litten oder leiden an Krebs - und wohnten "auffällig näher" an einem der 22 Atomkraftwerke als die gesunden Kinder aus der Studie. Selbst in 50 Kilometer Entfernung war das Krebsrisiko danach noch höher als in anderen Regionen. Spekulationen, nicht die Radioaktivität, sondern die elektrische Spannung um die Kraftwerke herum könnten eine Ursache sein, wollen die Experten des Bundeamtes zwar nicht ausschließen. Ein Magnetfeld jedoch, sagt Jung, strahle keine 50 Kilometer weit. König spricht offen von den "Grenzen der Wissenschaft."

    Um mögliche Fehlinterpretationen auszuschließen, haben die Autoren der Studie sogar einzelne Kernkraftwerke wie Gundremmingen oder Krümmel aus ihren Tabellen wieder herausgenommen - für die übrigen Reaktoren aber keine anderen Ergebnisse erhalten. Das heißt: Unabhängig von Bauart und Alter eines Atomkraftwerkes ist das Leukämie-Risiko für Kleinkinder überall in etwa gleich hoch. Die Frage nach den Ursachen, heißt es deshalb in einem Papier des Bundesamtes lapidar, "kann nicht beantwortet werden." Umgekehrt seien aber auch bei der Analyse der Daten keine Fehler gemacht worden. Der Zusammenhang zwischen der Nähe zum Reaktor und dem Leukämierisiko sei "überraschend eindeutig."

    Rasche Aufklärung ist nicht zu erwarten. Zwar will das Bundesamt für Strahlenschutz weitere, vertiefendere Untersuchungen in Auftrag geben. Die jetzt veröffentlichten Fakten jedoch, bestätigt König, dokumentierten in all ihrer Widersprüchlichkeit den aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik. Besorgten Eltern rät sein Kollege Jung gleichwohl zur Gelassenheit: Das Risiko, an Leukämie zu erkranken, sei auch in der Nähe eines Kernkraftwerkes "sehr, sehr klein." Im Straßenverkehr oder durch das Passivrauchen seien Kleinkinder ungleich größeren Gefahren ausgesetzt.

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