Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Kommentar: Asylpolitik: Angela Merkel ist allein in Europa

Kommentar

Asylpolitik: Angela Merkel ist allein in Europa

Rudi Wais
    • |
    Bundeskanzlerin Angela Merkel steht vor einer Zerreißprobe. In Europa steht sie alleine da.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel steht vor einer Zerreißprobe. In Europa steht sie alleine da. Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa

    Jean-Claude Juncker, der bekennende Europäer, hat in dieser Woche im Bayerischen Landtag einen bemerkenswerten Satz gesagt. Am Ende eines wortreichen Plädoyers für eine gemeinsame Flüchtlingspolitik klang der Präsident der EU-Kommission plötzlich wie Horst Seehofer und Markus Söder: „Man kann nicht ewig auf europäische Lösungen warten.“

    Angela Merkel sperrt sich noch gegen diese Einsicht. Stoisch verteidigt sie ihre Linie, nach der EU-Europa der Flüchtlingskrise nur in einem Kraftakt aller Mitgliedländer Herr wird – als seien die Bindekräfte in der Union noch um ein Vielfaches stärker als die Fliehkräfte. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall: So loyal der Rest der EU der deutschen Kanzlerin durch die Eurokrise gefolgt ist, so isoliert steht sie zwei Wochen vor dem nächsten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs da, in das sie all ihre Hoffnungen setzt.

    Österreich, Ungarn, Italien und sämtlich osteuropäische Staaten fordern restriktiven Kurs

    Nicht nur ihr österreichischer Kollege Sebastian Kurz, der Ungar Viktor Orbán, die meisten anderen osteuropäischen Länder und die frisch vereidigte italienische Regierung fordern einen deutlich restriktiveren Kurs im Umgang mit Flüchtlingen – auch der französische Präsident Emmanuel Macron, gerne als neue europäische Lichtgestalt gepriesen, agiert in der Asylpolitik nach dem Seehofer-Prinzip: Grenzen dicht! Alleine im vergangenen Jahr hat Frankreich etwa 85.000 Flüchtlinge an der Einreise gehindert. Gleichzeitig driftet ein Land wie Spanien in die entgegengesetzte Richtung ab. Kaum im Amt hat der neue sozialistische Innenminister angekündigt, den Stacheldraht an den Grenzanlagen in den nordafrikanischen Enklaven Ceuta und Melilla zu entfernen. Unter dem Schutz der Außengrenzen stellt sich vermutlich auch Angela Merkel etwas anderes vor.

    Um den Streit zwischen CDU und CSU geht es auch in unserem aktuellen Podcast. Hier reinhören:

    Eine gemeinsame Flüchtlingspolitik aller Mitgliedsstaaten ist eine Illusion

    Eine Flüchtlingspolitik, die von allen Mitgliedern gestaltet und getragen wird, ist vor diesem Hintergrund eine Schimäre, eine Illusion: Zu tief sind die Gräben, zu unterschiedlich die Interessen in den einzelnen EU-Ländern. Wenn schon der Versuch, die vergleichsweise überschaubare Zahl von 160.000 Flüchtlingen aus dem überforderten Griechenland mit- hilfe einer Quote halbwegs gerecht über Europa zu verteilen, scheitert: Wie soll dann eine große Lösung aussehen? Eine, bei der nach Angela Merkels Logik viele Staaten mehr Flüchtlinge aufnehmen müssten, als sie es bisher tun?

    Angela Merkels Absage erinnert an den glücklosen Don Quichotte

    Chronologie: Der Asyl-Streit zwischen CSU und CDU

    31. August 2015: "Wir schaffen das", sagt Merkel über die Bewältigung der Flüchtlingszahlen. Kurz darauf schließt sie nicht die Grenzen, als Schutzsuchende massenweise von Ungarn über Österreich nach Deutschland einreisen. Seehofer nennt das einen Fehler.

    9. Oktober 2015: Der CSU-Chef droht mit einer Verfassungsklage, falls der Bund den Flüchtlingszuzug nicht eindämmen sollte. Nach einer Aussprache mit der CDU legt er das Vorhaben kurz darauf ad acta.

    20. November 2015: Auf dem CSU-Parteitag in München kritisiert Seehofer die Kanzlerin auf offener Bühne, während sie neben ihm steht.

    3. Januar 2016: Seehofer fordert erstmals eine konkrete Obergrenze: maximal 200.000 neue Flüchtlinge pro Jahr. Merkel ist strikt dagegen.

    9. Februar 2016: Seehofer nennt die offenen Grenzen für Flüchtlinge im Herbst 2015 "eine Herrschaft des Unrechts".

    4./5. November 2016: Merkel nimmt erstmals nicht an einem CSU-Parteitag teil.

    20. November 2016: Merkel kündigt ihre vierte Kanzlerkandidatur an.

    24. November 2016: Der CSU-Chef macht eine Begrenzung der Zuwanderung zur Bedingung für eine erneute Regierungsbeteiligung.

    6. Februar 2017: Seehofer erklärt offiziell, die CSU unterstütze Merkel bei der Bundestagswahl. Zuvor war lange ein eigener Kanzlerkandidat nicht ausgeschlossen.

    1. April 2017: In einem Interview bezeichnet Seehofer Merkel als "unser größter Trumpf". Nur mit ihr sei die Wahl zu gewinnen.

    3. Juli 2017: Eine Obergrenze für Flüchtlinge kommt im Wahlprogramm der Union nicht vor. Im gesonderten CSU-Programm "Bayernplan" wird sie aber festgehalten. Seehofer macht sie erneut zur Koalitionsbedingung.

    20. August 2017: In einem Interview nennt Seehofer eine Obergrenze nicht mehr ausdrücklich als Bedingung für eine Koalition nach der Wahl.

    24. September 2017: Trotz Verlusten gewinnt die Union die Bundestagswahl, doch die CSU stürzt auf für ihre Verhältnisse katastrophale 38,8 Prozent ab. Fehler der Union im Wahlkampf sieht Merkel nicht.

    8. Oktober 2017: Vor anstehenden Gesprächen mit anderen Parteien über mögliche Koalitionen verständigen sich CDU und CSU auf das Ziel, maximal 200.000 Flüchtlinge pro Jahr aufzunehmen. Ausnahmen sind möglich. Das Wort "Obergrenze" taucht in der Einigung nicht auf.

    15. Dezember 2017: Merkel ist wieder auf dem CSU-Parteitag zu Gast. Die Schwesterparteien demonstrieren Geschlossenheit.

    12. März 2018: Union und SPD unterschreiben ihren Koalitionsvertrag. Seehofer wird als Innenminister in Merkels viertem Kabinett zuständig für Migration und Flüchtlinge. Er kündigt einen "Masterplan für schnellere Asylverfahren und konsequentere Abschiebungen" an.

    15. März 2018: Seehofer sagt: "Der Islam gehört nicht zu Deutschland." Die Kanzlerin grenzt sich von ihm ab.

    10. Juni 2018: In der ARD-Sendung "Anne Will" spricht sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gegen die CSU-Forderung nach einer Zurückweisung bestimmter Asylbewerber an der deutschen Grenze aus. Sie wolle, dass Deutschland "nicht einseitig national" handle.

    11. Juni 2018: Seehofer verschiebt überraschend die für den Folgetag geplante Vorstellung seines Masterplans. Hintergrund sind Differenzen mit Merkel über die Zurückweisung von Flüchtlinge an der Grenze, einem wichtigen Punkt des Masterplans.

    12. Juni 2018: Die CSU beharrt auf ihrer Forderung – und setzt auf eine Konfrontation mit der Kanzlerin: "Wir setzen den Punkt durch", sagt CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Unterstützung bekommt Seehofer derweil auch aus den Reihen der CDU. Das wird auch in einer gemeinsamen Sitzung der Bundestagsabgeordneten von CDU und CSU deutlich.

    13. Juni 2018: Ein abendliches Krisentreffen zwischen Merkel und Seehofer endet ohne Annäherung. Merkel will zwei Wochen Zeit gewinnen und bis zum EU-Gipfel Ende Juni bilaterale Vereinbarungen mit anderen Staaten treffen. Die CSU lehnt das ab: Sie will umgehend auf nationaler Ebene handeln, bevor es mögliche europäische Schritte gibt.

    14. Juni 2018: Der Konflikt eskaliert: Eine laufende Bundestagsdebatte muss unterbrochen werden, die Abgeordneten von CDU und CSU beraten in getrennten Sitzungen mehr als vier Stunden lang über den Asylstreit. Seehofer droht Merkel mit einem "Alleingang". Eine Entlassung des Innenministers, ein Bruch der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU oder gar der Regierungskoalition – zwischenzeitlich erscheinen viele Szenarien möglich.

    15. Juni 2018: Der Bundestag befasst sich in einer aktuellen Stunde mit der Flüchtlingspolitik. Die Opposition kritisiert die Union dabei wegen des Asylstreits scharf. Derweil beharren CDU und CSU auf ihren Positionen.

    16. Juni 2018: CDU-Politiker warnen die CSU eindringlich vor einem Bruch der Union und fordern Kompromissbereitschaft.

    17. Juni 2018: Eine Annäherung zeichnet sich über das Wochenende nicht ab – die Fronten bleiben verhärtet.

    18. Juni 2018: Der Streit wird vertagt. CDU und CSU einigen sich darauf, dass Merkel zwei Wochen Zeit bekommt, um in der Flüchtlingsfrage bilaterale Abmachungen mit anderen EU-Staaten zu erreichen. Erst dann soll über mögliche Zurückweisungen an der Grenze entschieden werden, es gebe keinen "Automatismus", hob Merkel hervor. Umgehend zurückgewiesen werden sollen aber Flüchtlinge mit Einreise- oder Aufenthaltsverbot. Zugleich droht Merkel Seehofer am Montag mit ihrer "Richtlinienkompetenz" als Kanzlerin. (dpa/AFP)

    Die Kanzlerin verfolgt ein hehres Ziel, erinnert in ihrer Absage an jeden nationalen Alleingang und jede Form der Abschottung aber zunehmend an den glücklosen Don Quichotte und seinen Kampf gegen die Windmühlen. Solange die Europäische Union nicht einmal in der Lage ist, ihre Grenzen nach außen zu kontrollieren, geschweige denn zu schützen, ist sich jeder selbst der Nächste. Die Briten haben sich mit dem Brexit sicherheitshalber gleich ganz aus dem Spiel genommen – und nicht nur in Polen, in Ungarn, Tschechien oder der Slowakei stehen Asylbewerber buchstäblich vor verschlossenen Türen. Österreicher und Dänen überlegen gerade, ob sie ein Land wie Albanien nicht dafür bezahlen sollen, dass es Auffanglager einrichtet und ihnen tausende von Flüchtlingen abnimmt. Europäische Solidarität, wie Angela Merkel sie buchstabiert, sieht anders aus.

    Am Ende wird vermutlich umgekehrt ein Schuh daraus. Ehe sich Europa auf eine gemeinsame Asylpolitik verständigen kann, müssen erst die Außengrenzen sicher sein und die Spielregeln für alle gleich und klar. Wer darf kommen – und wer nicht? Das auszuhandeln allerdings ist keine Frage von Wochen oder Monaten, sondern vermutlich eine von Jahren. Horst Seehofer und Markus Söder werden darauf sicher nicht warten.

    Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier .

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden