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Großbritannien: Auf den letzten Metern wird der britische Wahlkampf doch noch spannend

Großbritannien

Auf den letzten Metern wird der britische Wahlkampf doch noch spannend

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    Als Milchmann im Morgengrauen auf Wählersuche: Premier Boris Johnson kämpft bis zuletzt um eine absolute Mehrheit.
    Als Milchmann im Morgengrauen auf Wählersuche: Premier Boris Johnson kämpft bis zuletzt um eine absolute Mehrheit. Foto: dpa

    Für Boris Johnson begann der Morgen des Wahlkampffinales fröstelig. Im Norden Englands wollte er um die letzten Stimmen kämpfen, doch als ein Journalist ihn zu einem Interview zu überreden versuchte, verschwand der Premierminister schnell im Kühllager eines Milchmann-Unternehmens. Versteck gefunden. Fragen sind unerwünscht. Details zu seinen großen Versprechen ans Volk gibt es nicht. So geht das seit Wochen. Trotzdem deutet alles darauf hin, dass der 55-Jährige die Konservativen bei der Parlamentswahl am Donnerstag im Königreich zu einer absoluten Mehrheit führen wird. Weil seit Tagen jedoch der Vorsprung der Tories schrumpft, startete Johnson eine letzte Offensive in jenen Regionen, die am Ende den Unterschied machen könnten.

    Boris Johnsons Botschaft an die Wähler: "Lasst uns den Brexit durchziehen"

    Die hart umkämpften Gegenden befinden sich vor allem in Wales sowie im Norden Englands, wo einst die Eisen- und Stahlproduktion florierte und heute rote Bergarbeiter-Häuschen sowie brachliegende Zechen und Fabriken als Überbleibsel von den vergangenen industriellen Blütezeiten zeugen. Die Wirtschaft fiel schon vor Jahrzehnten den Privatisierungsplänen von Margaret Thatcher zum Opfer, Trostlosigkeit zog in die Vorgärten der Häusersiedlungen ein. Viele Briten aus der Arbeiterschicht haben hier 2016 für den Brexit gestimmt, aus Protest gegen Westminster, aus Verzweiflung über den jahrelangen Sparkurs, der die Gegend so hart getroffen hat wie kaum eine andere Region. Sie fühlen sich vergessen von der Politik, im Stich gelassen von der Labour-Partei. Obwohl diese Gegenden als Inbegriff des Labour-Kernlands gelten, werden diesmal viele ihr Kreuz bei den Konservativen machen.

    Boris Johnson kommt mit seiner einfachen Botschaft "Lasst uns den Brexit durchziehen" an. Die Leute wollen das Thema vom Tisch haben. In Bolsover etwa muss der 87-jährige Dennis Skinner, der als das "Biest von Bolsover" bekannt ist und seit 1970 für den Bezirk Derbyshire im Parlament sitzt, um seinen Wiedereinzug zittern. Parteiloyalität zählt nur noch bedingt und auch dass Skinner – wie ein Großteil seiner Wähler – selbst Ex-Minenarbeiter ist, wie es bereits sein Vater war, verfängt nicht mehr automatisch. Das liegt nicht nur, aber vor allem, am Brexit, der das Land tief gespalten hat.

    Holen die Tories die absolute Mehrheit?

    Die Sozialdemokraten stoßen mit ihrer Forderung nach einem zweiten Referendum auf taube Ohren. Labour-Chef Jeremy Corbyn war zuletzt in Middlesbrough unterwegs, ebenfalls ein Schlüssel-Wahlkreis, wo Labour und Tories jeweils um das Mandat kämpfen. Es dürfte knapp werden. Dabei geht es laut Umfragen ohnehin nur noch darum, ob die Konservativen eine absolute Mehrheit erreichen oder ob es abermals zu einer Hängepartie im Parlament kommt. (Lesen Sie dazu den Kommentar: Das Wahlsystem in Großbritannien ist unberechenbar)

    Verfehlt Johnson die absolute Mehrheit, könnten die Sozialdemokraten ein Bündnis schmieden mit den pro-europäischen Liberaldemokraten und der Scottish National Party (SNP), die auf einen Erdrutschsieg im nördlichen Landesteil hoffen darf. Mit einer Minderheitsregierung unter Corbyn, so das Versprechen, gibt es eine erneute Volksabstimmung.

    Das britische System macht Prognosen schwierig: Die Direktwahl der Abgeordneten in den insgesamt 650 Wahlkreisen sorgt dafür, dass der jeweilige Gewinner nur eine Stimme mehr benötigt als der zweitplatzierte Kandidat, nach dem Motto: "The winner takes it all." Lediglich der Sieger zieht ins Parlament ein. Die Stimmen für die unterlegenen Kandidaten gehen verloren. Deshalb bestand zunächst bei den Pro-Europäern die Hoffnung, dass sich die Anti-Brexit-Parteien in umkämpften Kreisen auf einen Kandidaten einigen würden. So weit kam es zur Enttäuschung der Europafreunde jedoch nicht.

    Können die Brexit-Gegner mit einer taktischen Wahl Johnsons Sieg verhindern?

    Seit Wochen bitten deshalb Aktivisten, Ex-Politiker wie der frühere Labour-Premier Tony Blair oder auch Schauspieler wie Hugh Grant die Briten darum, parteiübergreifend taktisch zu wählen. Wer kann in welchem Wahlkreis den konservativen Mitbewerber besiegen und so den Brexit zum 31. Januar 2020 abwenden? So setzen auch ehemalige Tories wie Dominic Grieve oder David Gauke ihre Hoffnung auf taktische Wähler. Sie treten als Unabhängige an, nachdem sie im Streit über den Brexit-Kurs der Regierung aus der Partei ausgeschlossen wurden. Beide Politiker der Mitte gelten mittlerweile als Rebellen, weil sie in den letzten Monaten immer wieder mit Kritik an Johnson von sich Reden gemacht haben.

    Doch die Stimmen der Vernunft scheinen keinen Platz im neugewählten Unterhaus zu haben: Die Tories sind unter Johnson nach rechts gerückt, Labour weit nach links. Beide Kandidaten, Johnson und Corbyn, sind unbeliebt, nur wird der Sozialist Corbyn von vielen als noch größeres Übel betrachtet als der Brexit-Cheerleader Johnson. Es herrscht alles andere als Enthusiasmus, wenn die Briten am Donnerstag bis 23 Uhr in der kalten Vorweihnachtszeit wählen gehen.

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