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Belarus: Tichanowskaja: „Ich kann Lukaschenko nicht vergeben“

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Tichanowskaja: „Ich kann Lukaschenko nicht vergeben“

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    Auf Abstand, aber mit gegenseitiger Sympathie: Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem Treffen mit Swetlana Tichanowskaja.
    Auf Abstand, aber mit gegenseitiger Sympathie: Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem Treffen mit Swetlana Tichanowskaja. Foto: Jesco Denzel, dpa

    Swetlana Tichanowskaja zögert. Sie denkt auf offener Bühne nach, mitten in einer Pressekonferenz. Dann wieder stöhnt sie leise, aber hörbar verzweifelt auf, wenn sie keine schnelle Antwort parat hat. Einfach weil sie nicht weiß, wie es weitergehen soll in ihrer Heimat Belarus. „Ich dränge darauf, dass alles friedlich bleibt“, sagt sie. Im Raum steht die Frage, ob sich die Proteste gegen Diktator Alexander Lukaschenko radikalisieren könnten, so wie es 2014 bei der Maidan-Revolution in der Ukraine war. Tichanowskaja atmet noch einmal durch und entschließt sich dann zur Offenheit: „Ach wissen Sie, das ist die freie Entscheidung der Menschen im Land. Ich kann ja nicht jeden Einzelnen kontrollieren.“

    Nein, diese Swetlana Tichanowskaja ist kein Politprofi. Dazu antwortet sie zu ehrlich und zu intuitiv, statt vorbereitete Versatzstücke zu präsentieren. Und die 38-Jährige will auch gar kein Profi sein. Am liebsten wäre sie nicht einmal Politikerin. „Ich spiele nur eine Übergangsrolle“, sagt sie. Bis Lukaschenko weg ist. Bis es faire Neuwahlen in Belarus gibt. Darauf besteht die Lehrerin und zweifache Mutter, die ja wirklich eher zufällig zur Lukaschenko-Herausforderin aufgestiegen ist. Das war im Frühsommer, als die Spezialpolizei ihren Mann Sergei verhaftete, weil er zur Präsidentschaftswahl antreten wollte. Aus Protest stieg dann Tichanowskaja in den Ring – und eroberte die Herzen ihrer Landsleute im Sturm. Der Rest ist bekannt. Lukaschenko ließ die Wahl fälschen und versucht seither, sich mit Gewalt an der Macht zu halten. Die mutmaßliche Wahlsiegerin Tichanowskaja ließ er aus dem Land treiben.

    Mit dem französischen Präsidenten hat sich Tichanowskaja schon getroffen

    Und da ist sie nun also, an diesem Dienstag in Berlin, um Kanzlerin Angela Merkel zu treffen. Mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron hat sie schon vergangene Woche in ihrem litauischen Exil gesprochen. In der deutschen Hauptstadt wird sie wie ein Staatsgast empfangen. Sie wirbt um Unterstützung. Es brauche „mehr Druck von außen“, um Lukaschenko zum Einlenken zu bewegen, sagt Tichanowskaja und bittet um deutsche Vermittlung. Sie würde gern Gespräche mit Vertretern des Regimes führen, unter Einbeziehung des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Aber ohne Lukaschenko.

    „Wir können das nicht einfach vergessen und vergeben“, sagt die Oppositionsführerin mit Blick auf die Gewaltexzesse nach Präsidentschaftswahl im August. Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. „In fairen Prozessen“, schiebt sie hinterher. Allerdings weiß Tichanowskaja auch, dass eine juristische Aufarbeitung des Geschehens das unwahrscheinlichste Szenario ist. „Die Mehrheit der Menschen in Belarus würde Lukaschenko wohl unbehelligt ziehen lassen“, sagt sie. Dann überlegt sie wieder auf offener Bühne, um klarzustellen: „Ich persönlich kann ihm aber nicht vergeben.“

    Bis heute ist nicht geklärt, wie Tichanowskaja zur Ausreise gezwungen wurde

    Bis heute hat Tichanowskaja nicht im Detail geschildert, mit welchen Mitteln der Geheimdienst KGB sie nach der Wahl zur Ausreise nach Litauen gezwungen hat. In ihrem Umfeld war von Psychofolter die Rede. Von Drohungen gegen ihren inhaftierten Mann und die Kinder. Selbst wenn nur ein Teil der Berichte stimmt, dürfte es die 38-Jährige auch persönlich schmerzen, dass Lukaschenko nicht auf der Sanktionsliste der EU steht. Anders als rund 40 Vertreter des Regimes, die sich nachweislich an den Gewaltexzessen oder Wahlfälschungen beteiligt haben. Tichanowskaja fordert, die Strafmaßnahmen auszuweiten. Doch die EU will sich den Weg zum Dialog mit Lukaschenko nicht vorschnell verbauen.

    Aber vielleicht gäbe es ja noch andere Wege. Man könnte zum Beispiel jene russische Journalisten sanktionieren, die derzeit in Minsk arbeiten und „den Machthabern mit ihrer Propaganda helfen“, schlägt Tichanowskaja vor. Zumal das Lukaschenko-Regime erst Anfang Oktober allen westlichen Medienvertretern, die aus Belarus berichten wollten, die Akkreditierung entzogen hat. Umso wichtiger ist es für Tichanowskaja, sich in Berlin vor der Presse äußern zu können. „Wir brauchen Aufmerksamkeit“, sagt sie und bittet die Journalisten ganz ungeniert: „Helft uns, seid laut!“ Auch das ist wieder so ein Satz, den kaum ein Politprofi je sagen würde. Viel zu nah liegt ja der Vorwurf, hier versuche jemand, unabhängige Medien zu vereinnahmen.

    Eine Demonstration in Minsk am 27. September.
    Eine Demonstration in Minsk am 27. September. Foto: dpa

    Ihr Mangel an Professionalität ist zugleich ihr großer Trumpf

    Zugleich ist Tichanowskajas sichtbarer Mangel an Professionalität womöglich ihr größter Trumpf. Denn ihre Glaubwürdigkeit ist enorm. Und damit punktet die 38-Jährige nicht nur bei den Protestierenden in ihrer Heimat, die nach einem Vierteljahrhundert Lukaschenko-Herrschaft genug haben vom „Lügen und Betrügen“. Auch bei Regierenden in westlichen Hauptstädten kommt Tichanowskaja mit ihrer Geradlinigkeit gut an. Merkel etwa lässt ihren Sprecher noch vor dem Treffen mitteilen, sie sei „beeindruckt“ von den friedlichen Protesten in Belarus und von dem „enormen Mut“ vor allem der Frauen im Land.

    „Unser Herz schlägt mit den Demonstrierenden“, hatte die Bundeskanzlerin schon Anfang September zu Protokoll gegeben. Tichanowskaja hat das nicht vergessen, und sie ist dankbar für die Unterstützung durch „eine der mächtigsten Staatenlenkerinnen der Welt“. Sie selbst wolle allerdings nicht noch einmal für das Präsidentenamt in Belarus kandidieren, erklärt sie am Dienstag. Auch in freien Wahlen nicht. Sie sei nicht davon überzeugt, dass sie „diese äußerst schwierige Aufgabe bewältigen könnte“. Politik sei am Ende doch ein schmutziges Geschäft.

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