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Kommentar: Berlin sollte Erdogans Probleme nutzen

Kommentar

Berlin sollte Erdogans Probleme nutzen

Simon Kaminski
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    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan während einer Pressekonferenz in Ankara Mitte August.
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan während einer Pressekonferenz in Ankara Mitte August. Foto: Burhan Ozbilici, dpa (Archiv)

    Da weiß man, was man hat – mit diesem Werbespruch versuchte ein deutscher Waschmittelhersteller einst Kunden von seinem Produkt zu überzeugen. Ein Spruch, der auch auf Recep Tayyip Erdogan zutrifft – allerdings im negativen Sinne. Der türkische Präsident ist enträtselt. Zerstoben sind Hoffnungen, dass der frühere Bürgermeister von Istanbul einen modernen demokratischen Staat in dem islamischen Land aufbauen würde. Am Freitag kommt ein cholerischer, rachsüchtiger und immer mehr zu einsamen Entscheidungen neigender Autokrat nach Deutschland.

    Vieles riecht nach Despotie am Bosporus. Erdogan regiert nach der Maxime: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Wer uns kritisiert, der ist ein Terrorist. Dieser Logik folgend, werden Gegner der Regierung eingeschüchtert, verurteilt und eingesperrt.

    Kein Wunder, dass jetzt darüber gestritten wird, wie man dem Mann gegenübertreten soll. Kann man sich mit solch einem Politiker bei einem Staatsbankett sehen lassen? Ist die Einladung Erdogans, die Präsident Frank-Walter Steinmeier ausgesprochen hat, nicht eine unnötige Aufwertung für den „Sultan“ von Ankara?

    Mag sein, aber auch mit den Erdogans oder Putins dieser Welt sollte man reden. Ob ein Bankett-Boykott Eindruck macht, ist zweifelhaft. Der Ansatz des Grünen-Politikers Cem Özdemir – einer der in der Türkei bekanntesten deutschen Erdogan-Kritiker – dürfte effektiver sein. Özdemirwill gerade deswegen dorthin gehen, weil der türkische Präsident ihn dann „sehen und aushalten“ muss.

    Die Charmeoffensive hat wirtschaftliche Gründe

    Die Einladung ist auch deshalb richtig, da der Hebel, an dem Europa und insbesondere Deutschland sitzen, im Falle der Türkei zuletzt immer länger geworden ist. Es ist ja kein Zufall, dass Erdogan vor seiner Reise bekundete, die deutsch-türkische Freundschaft wieder aufleben lassen zu wollen. Seine mit Nazi-Vergleichen gespickten Ausfälle gegenüber Deutschland sind kein Thema mehr. Die heimischen – fast alle von der Regierung gelenkten – Medien flankieren die Charmeoffensive mit wohlwollender Berichterstattung über die Kanzlerin. Vor nicht allzu langer Zeit war Angela Merkel in den Zeitungen und im Fernsehen fast täglich Ziel von Hohn und Spott.

    Man sollte nicht den Fehler machen, diese Volten mit Unberechenbarkeit zu verwechseln. Erdogan verfügt noch über genügend Gespür dafür, wann seine strukturell knappe Mehrheit in der Bevölkerung in Gefahr gerät. Und das ist genau jetzt der Fall. Die Menschen bekommen den ökonomischen Niedergang durch die Inflation, sprich Kaufkraftverlust, schmerzhaft zu spüren. Erdogan flirtet mit Moskau, machte China Avancen. Doch die Türkei ist wirtschaftlich von Europa abhängig. Mehr als zwei Drittel der dort aus dem Ausland getätigten direkten Investitionen kamen 2017 aus der EU, die wiederum der wichtigste Markt für Waren aus der Türkei ist. Ganz vorne dabei ist Deutschland.

    Die freundlichere Tonlage aus Ankara ist allein strategischer und wirtschaftspolitischer Natur. Auf die Milliarden aus dem Flüchtlingsdeal ist er mehr denn je angewiesen. Erdogan braucht dringend deutsche Hilfe. Die Bundesregierung sollte die Lage kühl nutzen, um Gegenleistungen einzufordern. Noch immer befinden sich Deutsche in der Türkei in Haft, noch immer baut der türkische Präsident seine Herrschaft rücksichtslos aus. Dass er die Zukunft des Landes mit diesem Kurs aufs Spiel setzt, begreift er nicht.

    Illusionen sind fehl am Platze: Auf die versöhnlichen Töne kann schnell wieder ein Zornausbruch aus Ankara folgen: Erdogan – da weiß man, was man hat.

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