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Interview: Ex-Verfassungsschutz-Chef: "Wir sind eine konfliktscheue Gesellschaft"

Interview

Ex-Verfassungsschutz-Chef: "Wir sind eine konfliktscheue Gesellschaft"

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    Hansjörg Geiger war ab 1990 Direktor bei der  Stasi-Unterlagen-Behörde. 1995 wurde er Präsident des Verfassungsschutzes und 1996 Präsident des Bundesnachrichtendienstes.
    Hansjörg Geiger war ab 1990 Direktor bei der Stasi-Unterlagen-Behörde. 1995 wurde er Präsident des Verfassungsschutzes und 1996 Präsident des Bundesnachrichtendienstes. Foto: Bernd Settnik, dpa

    Herr Geiger, wenige Deutsche dürften tiefere Einblicke in die Welt der Geheimdienste erhalten haben als Sie. Hat Sie der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt überrascht?

    Hansjörg Geiger: Seit Jahren wird genau so etwas befürchtet, jetzt ist es passiert. Einige kleinere Anschläge hat es ja schon gegeben. Auch der Attentäter von Ansbach sollte nach dem Befehl seiner Hintermänner vom Islamischen Staat ursprünglich einen Anschlag mit einem Fahrzeug verüben. Das scheiterte nur daran, dass der syrische Flüchtling nicht Auto fahren konnte. So zündete er eine Rucksackbombe, die 15 Menschen verletzte und ihn selbst tötete.

    In Berlin wurde wie schon in Nizza ein Lastwagen zur Waffe…

    Geiger: Es ist erschreckend, wie simpel und effektiv die Strategie der Terroristen ist. Da braucht es keine langwierigen Vorbereitungen, keine ausgefeilte Finanzierung. Aufrufe und Anleitungen kursieren im Internet. Auch Einzelgänger können jederzeit für Angst und Schrecken sorgen. Ein Wagen, der in eine Fußgängerzone rast, kann viele Menschen in den Tod reißen.

    Im Fall des Berliner Attentats sind noch viele Fragen offen. Was wissen wir allgemein über die Bedrohungslage in Deutschland?

    Geiger: Die Gefahr ist und bleibt leider extrem hoch. Islamismus ist hierzulande ja kein neues Phänomen. Schon die Attentate vom 11. September 2001 wurden auch von Deutschland aus vorbereitet. In den vergangenen Jahren hat die Terrororganisation Islamischer Staat in Syrien und im Irak auch aus Deutschland starken Zulauf bekommen. Manche dieser Kämpfer sind nach Deutschland zurückgekehrt. Die unübersichtliche Lage während der Flüchtlingskrise hat der IS genutzt, um Anhänger einzuschleusen. Zudem gehen Salafisten jetzt in die Flüchtlingsheime und versuchen, dort Anhänger zu rekrutieren. Sie treffen auf viele frustrierte junge Männer, die große Erwartungen an das Leben in Deutschland hatten und jetzt immer noch in einer Turnhalle festsitzen.

    Wie hat sich die Aufnahme von rund einer Million Flüchtlingen in Deutschland Ihrer Meinung nach auf die Sicherheit ausgewirkt?

    Geiger: Wir hatten zeitweise einen Kontrollverlust. Der Staat war nicht mehr Herr der Lage, konnte nicht mehr steuern, wer ins Land kommt. Das war auch ein Ergebnis der „Großzügigkeit“ der Kanzlerin, sie hat das offenbar nicht vorhergesehen. Erst die Schließung der Balkanroute hat die Situation entscheidend beruhigt.

    Wie kann der Staat die Kontrolle zurückgewinnen?

    Geiger: Wir müssen jetzt versuchen, das Ganze wieder in ein geregeltes Fahrwasser zu lenken. Noch ist offensichtlich eine halbe Million Asylanträge nicht entschieden. Das hat jetzt absolute Priorität, dafür müssten auch noch weitere Mitarbeiter anderer Behörden herangezogen werden. Auch bei den Flüchtlingen, die bereits registriert sind, gibt es ja viele Fälle, in denen es Zweifel an den Angaben gibt, wenn etwa keine Pässe vorliegen. Oft besteht der Verdacht, dass bei Namen, Alter oder Herkunft unrichtige Angaben gemacht oder gefälschte Dokumente vorgelegt wurden. Es fehlen aber die Kapazitäten, alles genau zu überprüfen.

    Viele Bürger, die genau diese Umstände beklagen, fühlen sich von den etablierten Parteien nicht ernst genommen…

    Geiger: Aber die Gesellschaft braucht Antworten auf diese Fragen, und die darf nicht die Alternative für Deutschland geben, die ja keine Alternative bietet. Auch von rechts gerät die Demokratie stark unter Druck, das ist überall in Europa der Fall. Populistische Kräfte nutzen die Lage zum Stimmenfang.

    Wie kann ein solches Abdriften nach rechts verhindert werden?

    Geiger: Die Politik muss die Flüchtlingssituation besser erklären. Kanzlerin Merkel hat dies nicht ausreichend getan. Zeitweise wurden Probleme tabuisiert. Etwa wenn es um Straftaten von Flüchtlingen geht. Doch mündigen Bürgern darf man keine Informationen vorenthalten. Sonst gibt es in geheimen Wahlen den Denkzettel. Zu manchen Themen hat die Politik den Kopf in den Sand gesteckt. Die Devise „Wehret den Anfängen“ wurde in vielen Bereichen vernachlässigt. Wir sind eine konfliktscheue Gesellschaft geworden.

    Gilt das auch im Verhältnis zum Islam?

    Geiger: Einerseits ist es auch das Ziel der Terroristen, das Verhältnis zwischen den Religionen zu vergiften und Feindschaft zu schüren. Andererseits stellt sich schon die Frage, ob sich die offiziellen Vertreter des Islam immer deutlich genug von salafistischen Strömungen abgrenzen. Vielleicht müssen wir die Verbände zu noch deutlicheren Positionierungen auffordern. Doch das ist nicht einfach angesichts der Tatsache, dass diverse islamische Verbände von regierungsnahen Organisationen in der Türkei und im arabischen Raum gesteuert und finanziert werden.

    Wo müsste die Politik jetzt, nach dem Anschlag von Berlin, ansetzen?

    Geiger: Entscheidend ist wieder einmal, die richtige Balance zwischen Sicherheit und Freiheit zu finden. Beides gehört zusammen. Ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit. Und wie viel Sicherheit nötig ist, das kann sich ändern, je nachdem, wie die Zeiten sind. Im Moment ist die Herausforderung, dass Terroristen, denen das Leben egal ist, ihr eigenes und das der anderen, die vor nichts zurückschrecken, um möglichst viele Menschen zu töten, gegen einen Rechtsstaat kämpfen, der liberal, tolerant und offen ist.

    Ist unser Sicherheitsapparat diesen Herausforderungen überhaupt gewachsen?

    Geiger: In der Tat: Die Polizei ist nach Sparrunden teilweise unterbesetzt. Aber kein Politiker wird das zugeben. Und neue Polizisten lassen sich nicht so schnell ausbilden.

    Sie konstatieren hohe Terrorgefahr auf der einen Seite, gravierende Fehler der Politik auf der anderen: Kann eine Kehrtwende da noch gelingen?

    Geiger: Es ist nie zu spät. Nun ist die Zeit zu fragen, wo wurden Fehler gemacht, wo faule Kompromisse geschlossen. Und dann müssen die Probleme mit aller Konsequenz angegangen werden.

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