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Geschichte: Gleichberechtigung der Schwarzen: Amerikas Traum(a)

Geschichte

Gleichberechtigung der Schwarzen: Amerikas Traum(a)

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    Vor 50 Jahren hielt Martin Luther King seine legendäre Rede "I have a dream ..."
    Vor 50 Jahren hielt Martin Luther King seine legendäre Rede "I have a dream ..." Foto: UPI. dpa

    Wenn John Lewis auf den Balkon seines Amtszimmers tritt, schaut er zwischen Marmorsäulen und Grünanlagen geradewegs aufs Kapitol. Seit 1987 sitzt der schwarze Demokrat im Repräsentantenhaus; mit seinen 73 Jahren kann er das manchmal selbst kaum glauben. „Wenn es Martin Luther King nicht gegeben hätte, weiß ich nicht, was aus Amerika geworden wäre. Oder aus mir selbst“, sagt der bedächtige Mann. „Wenn mir vor 50 Jahren jemand erzählt hätte, dass ich ein Kongressabgeordneter werden würde, mit einem Büro auf dem Kapitolshügel – ich hätte gesagt: unmöglich.“

    Lewis muss es wissen. Er hat mit auf der Bühne gestanden, als King am 28. August 1963 seine berühmte Rede hielt. Am anderen Ende der National Mall war das; jener großen Rasenfläche, die Washingtons Staatsbauten trennt. Lewis war damals 23 und vertrat das Student Nonviolent Coordinating Committee, eine der sechs großen Bürgerrechtsorganisationen, die den Marsch auf Washington organisiert hatten. Er war der jüngste der zehn Redner, die am Denkmal von Abraham Lincoln Gleichberechtigung für Amerikas Schwarze forderten.

    Im Süden der USA durften damals Schwarze nicht wählen

    Die Realität war: Im Süden der USA herrschte Apartheid. Schwarze durften nicht wählen, gegenüber der Polizei waren sie rechtlos. 1955 waren die Bürgerrechtsbewegung und King als ihr Sprecher ins nationale Bewusstsein getreten mit dem Busboykott in Montgomery (Alabama). Viele Proteste folgten. Und die Bürgerrechtler stießen auf brutalen weißen Widerstand.

    Dann kamen der 28. August 1963, rund 250 000 Zuhörer in Washington und dieser eine berühmte Satz. Die „I have a dream“-Rede des Baptistenpredigers Martin Luther King dominiert die Erinnerung an den Tag bis heute. Dass längst nicht alle Schwarzen damit glücklich sind, geht bei den Jubiläumsfeiern in diesen Tagen wohl unter.

    John Lewis: Der einzige Redner, der noch lebt

    John Lewis ist heute selbst eine Institution. Zwei Dutzend mal wurde er bei Demonstrationen festgenommen, 1965 von der Polizei in Alabama fast getötet. Nachdem er King als junger Mann bei der Suche nach einem Studienplatz um Hilfe gebeten hatte, wurde er zum Ziehsohn des Schwarzenführers. Heute hat Lewis nicht nur ein Mandat in der Spitzenpolitik. Er ist auch der einzige Organisator und Redner am Rande des Marsches, der noch lebt.

    Die Veranstaltung war die größte Demonstration, die es in den USA bis dahin gegeben hatte. Nicht zuletzt der demokratische Präsident John F. Kennedy hatte Angst, dass es zu chaotischen Szenen kommen würde. Die Wahl- und Bürgerrechtsinitiativen, die seine Regierung dem Kongress vorlegen wollte, waren ohnehin schon Kompromisse, das Verhältnis zu den Südstaaten war bedrohlich gespannt.

    Lewis erinnert sich: „Wir sind zu zehnt auf den Kapitolshügel gegangen und haben uns mit der Führung des Repräsentantenhauses getroffen.“ Das wiederholte sich im Senat. Die Amtsträger hatten die Manuskripte gelesen und wollten wissen, ob Lewis seine Rede geändert habe. Dieser war jung und nicht geneigt, Kennedy politische Rücksichtnahme nachzusehen. „Geduld ist ein schmutziges und böses Wort“, wollte er wettern und Märsche durch den Süden des Landes androhen. Vorerst kam es zu keiner Einigung.

    Die Anführer wurden mitgerissen

    Lewis erzählt weiter. „Nachdem dieses Treffen vorbei war, sind wir die Constitution Avenue hinuntergegangen, um den Marsch anzuführen. Aber als wir dort ankamen, hatten sich die Menschen längst in Bewegung gesetzt.“ Die Anführer wurden mitgerissen: zum Washington Monument, dem Obelisken in der Mitte der Mall, schließlich zum Lincoln Memorial, wo die eigentliche Kundgebung stattfinden sollte.

    „Wir saßen zur Linken von Lincoln, mit einer tragbaren Schreibmaschine“, sagt Lewis. Hier oben erst überredeten ihn Martin Luther King und der Hauptorganisator Asa Philip Randolph, seine Rede zu mildern. Wenn Lewis darüber spricht, wie er als 23-Jähriger vor die Menge trat, wird seine Stimme ganz weich.

    Als Redner waren nur Männer vorgesehen, aber im künstlerischen Teil des Programms traten die Sängerinnen Joan Baez und Mahalia Jackson auf. Jackson war es auch, die dem Tag zu seinem ungeplanten Höhepunkt verhalf. In Kings vorbereiteter Rede fehlten jene Passagen, die so berühmt werden sollten. Dann, gegen Ende seines Textes, rief Jackson: „Erzähl ihnen vom Traum, Martin!“ King verließ sein Manuskript und improvisierte das Ende der 17-minütigen Ansprache mit jener Zukunftsvision, die er schon oft beschworen hatte: „Ich habe immer noch einen Traum. Es ist ein Traum, der tief im amerikanischen Traum verwurzelt ist.“

    Die Formulierung wurde zum Mantra, erfasste die Mall und die Menschen am Fernseher daheim. „Ich habe einen Traum, dass dieses Land eines Tages aufstehen und der wahren Bedeutung seines Glaubens gerecht werden wird“, rief King, „dass alle Menschen gleich geschaffen sind.“ Anklänge an die Bibel, an die Unabhängigkeitserklärung, an die Verfassung, an Lincolns Rede von Gettysburg – King appellierte an alles, was das amerikanische Selbstverständnis ausmacht. Kennedy soll vorm Bildschirm gemurmelt haben: „Er ist verdammt gut.“

    Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass der Civil Rights Act erst 1964 durch den Kongress gedrückt wurde, als Kennedy schon tot war. Der Voting Rights Act von 1965 verdankt sein Zustandekommen nicht zuletzt dem „Bloody Sunday“ von Selma, Alabama, bei dem Lewis von der Polizei fast erschlagen wurde. Beides sind Bürgerrechtsgesetze, in denen das Recht der Schwarzen auf Gleichbehandlung festgeschrieben wurde.

    Eine Farce, eine zahnlose Utopie

    Der Schwarzenführer Malcom X hat den Marsch schon 1963 als scheinharmonische „Farce von Washington“ abqualifiziert. Seine Anhänger fühlen sich heute bestätigt. Für sie ist von Kings Rede kaum mehr übrig als eine zahnlose Utopie. „Mir geht das Gerede von ,Ich habe einen Traum‘ entsetzlich auf die Nerven“, sagt der Dozent und Publizist A. Peter Bailey. „Es wird dem Mann nicht gerecht. Er hatte keine Kumbaya-Vision. Er hat wirtschaftliche Ungerechtigkeit bekämpft!“

    Bailey gehört zu den Mitgründern der Organization of Afro-American Unity um Malcolm X; er pocht darauf, dass der Marsch auf Washington eigentlich „Marsch für Jobs und Freiheit“ hieß. Zu seinen Zielen gehörten so konkrete Forderungen wie ein Mindestlohn. Im Hinblick auf die Schwarzen seien die Versprechungen der Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung ungedeckte Schecks geblieben, sagte King. „Also sind wir gekommen, diesen Scheck einzulösen!“ King forderte Teilhabe am Wohlstand.

    Der Bürgerrechtler wird heute oft weicher gezeichnet, als er tatsächlich war. Aber er hat auch eine Bedeutung über die Schwarzen-Bewegung hinaus. Er hat die USA an den Kern ihres Wertekanons erinnert. Und er hat seinen Zuhörern Geduld eingeschärft: „Während wir unseren rechtmäßigen Platz erringen, dürfen wir keiner falschen Taten schuldig werden“, sagte er. Der Satz stand, bis die Ermordung Kings 1968 landesweite Unruhen auslöste.

    Afro-Amerikaner sind immer noch doppelt so oft arbeitslos wie Weiße

    Das mittlere Einkommen für Schwarze liegt heute bei 21 000 Dollar im Jahr, Weiße verdienen 27 000. Afro-Amerikaner sind immer noch doppelt so oft arbeitslos wie ihre hellhäutigen Mitbürger. Sie brechen häufiger die Schule ab, haben eine niedrigere Lebenserwartung und sind häufiger wohnungslos. Aber: Bei all diesen Werten ging die Schere einst weiter auseinander. Der schwarze Anteil an der Bevölkerung wächst. Und anders als bei der Gesamtheit der Bürger ist die Wahlbeteiligung der Afro-Amerikaner seit 1964 gestiegen.

    Zum 50. Jahrestag von Martin Luther Kings Rede sitzt im Weißen Haus erstmals ein farbiger Präsident. „Obama verkörpert Kings Traum“, titelte die Washington Post im Januar. Und fuhr fort: „... wenn man das meiste davon vergisst.“

    Für Menschen wie A. Peter Bailey ist es keine Überraschung, dass Obama für keine Gruppe so wenig getan hat wie für die Afro-Amerikaner. Er könne das Wort schwarz gar nicht sagen, ohne Gefahr zu laufen, als Lobby-Präsident abgestempelt zu werden. Bailey hält politische Repräsentation für ein Feigenblatt, die Demonstrationen im Fall Trayvon Martin findet er albern. Der 17-jährige Schwarze wurde 2012 vom Nachbarschaftswächter George Zimmerman erschossen, obwohl er unbewaffnet war. Ein Gericht sprach Zimmerman frei. Stattdessen hofft Bailey auf eine ökonomische Bewegung. Mit 600 Milliarden Dollar Gesamteinkommen könnten die Afro-Amerikaner durchaus Einfluss nehmen. „Aber wir haben uns bislang nicht diszipliniert gezeigt.“

    Lewis sieht die Dinge pragmatischer. Auch ihn erfüllt der Tod von Trayvon Martin mit Sorge. Auch er hat registriert, dass das oberste US-Gericht in diesem Jahr Teile jenes Wahlrechts außer Kraft gesetzt hat, das der Marsch auf Washington zu initiieren half. Er glaubt aber nicht, dass Fortschritt etwas ist, was nur Schwarze betrifft: „Niemand darf zurückgelassen werden.“ Eine Mehrheit von Weißen und Schwarzen im Land sagt inzwischen, die Beziehungen seien eher gut. „Wenn jemand mir sagt, es habe sich nichts verändert, dann antworte ich: Geh ein paar Schritte in meinen Schuhen“, sagt der Mann mit den Polizeistocknarben am Schädel. „Wir haben große Fortschritte gemacht.“

    Obama signierte mit: „Deinetwegen, John“

    Als John Lewis am Lincoln Memorial stand, war Obama zwei Jahre alt. Als dieser zum Präsidenten gewählt wurde, weinte Lewis hemmungslos wie ein Kind. Heute bewahrt er eine Karte auf, die er dem Staatsoberhaupt bei der Amtseinführung 2009 zum Signieren gab. Die Worte darauf fassen ein Leben zusammen: „Deinetwegen, John. Barack Obama.“

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