
Hansjörg Geiger: "Wir haben die Macht der Stasi gebrochen"


Exklusiv Kaum Personal, kein Geld, kein richtiges Telefon: Unter erschwerten Bedingungen hat Hansjörg Geiger nach der Wiedervereinigung die Stasi-Unterlagenbehörde mit aufgebaut.
Herr Geiger, Sie haben nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung mit Joachim Gauck die Stasi-Unterlagenbehörde aufgebaut. Hatte die Stasi denn auch eine Akte über Sie?
Hansjörg Geiger: Das weiß ich nicht. Ich habe mich das gelegentlich gefragt, ja, aber ich habe nie einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt. Ich wollte frei und unbefangen meine Arbeit machen können.
Und heute, Jahrzehnte später. Reizt es Sie nicht, zu wissen, ob die Stasi auch etwas über Sie in ihren Akten hatte – und, wenn ja, was?
Geiger: Ich weiß so viel über die Stasi, dass das bisschen, was sie womöglich über mich hätte wissen können, dagegen ziemlich blass aussehen würde. So wichtig nehme ich mich nicht.
Wie sind Sie eigentlich als Direktor zur Gauck-Behörde gekommen? Sie waren Referatsleiter beim bayerischen Datenschutzbeauftragten und wurden buchstäblich über Nacht zum Nachlassverwalter eines Unrechtsregimes?
Geiger: Es waren verrückte Zeiten, und deswegen gab es auch verrückte Möglichkeiten. Ich habe im Oktober 1990 an einer Datenschutzkonferenz in Paris teilgenommen – und als ich abends ins Hotel zurückgekommen bin, lag da ein Zettel mit der Bitte, eine Berliner Telefonnummer anzurufen. Dort meldete sich die Frau eines guten Bekannten und sagte: In Berlin wird eine neue Behörde gegründet, die sich mit den Stasi-Akten befasst. Ich fragte: Stasi-Akten – was ist das? Zwei Tage später habe ich mich mit Herrn Gauck getroffen, den ich bis dahin nicht gekannt hatte und dem ich offenbar empfohlen worden war. Aber wir hatten schnell das Gefühl, dass wir zusammenpassen würden. Er, der ostdeutsche Pfarrer, ein Protestant, und ich, der westdeutsche Jurist, ein Katholik. Schon am darauffolgenden Wochenende bin ich dann mit meinem Auto nach Berlin gefahren, und als ich irgendwo bei Merseburg im Stau stand und es überall nach Trabi roch, habe ich mich zum ersten Mal gefragt: Auf was lässt du dich da ein? Ich hatte in Berlin keine Wohnung. Kein Büro, rein gar nichts.

Das Erbe der Stasi war schon durch seine schiere Menge furchteinflößend. Weit über hundert Regalkilometer Akten, 1,7 Millionen Fotos und Mikrofiches, mehr als 30.000 Film- und Tonmitschnitte, 41 Millionen Karteikarten, 15.000 Säcke mit zerrissenen oder geschredderten Unterlagen: Wie haben Sie Ordnung in diesen Berg von Informationen gebracht? Sie hatten am Anfang schließlich nur etwas mehr als 50 Mitarbeiter und eine einzige Schreibmaschine...
Geiger: … bei der auch noch das „e“ klemmte. Die Erwartungshaltung war extrem groß. Schon nach zwei Wochen wollte das Innenministerium die ersten Prüfungsbescheide. Ich hatte damals noch gar keine Ahnung, wie viele Akten wir überhaupt hatten, wo sie lagen, wie sie geordnet waren und wer sich in den Außenstellen außerhalb Berlins eigentlich um sie kümmerte. Es war kaum Personal da, kein Geld, und wenn ich telefonieren wollte, musste ich das Gespräch anmelden und bekam nach drei oder vier Stunden vielleicht eine freie Leitung. Es fehlte praktisch an allem. Einmal habe ich meinen Fahrer mit 50 D-Mark in den Westteil Berlins geschickt, um ein paar Arbeitsmäntel für die Mitarbeiter in der Poststelle zu kaufen, deren Anzüge schon ganz schmutzig waren von dem Staub, der beim Öffnen der faserigen mausgrauen DDR-Briefumschläge entstand. Die Benutzerordnung, die der Einigungsvertrag von uns verlangte, habe ich damals in meinem Kämmerchen in Rauchfangwerder ganz im Süden von Berlin mit der Hand geschrieben. Viele Mitarbeiter wussten gar nicht, wie man einen Bescheid ausstellt. Das waren ehemalige Bürgerrechtler, Krankenschwestern, Eisenflechter.
Wie muss man sich das ganz praktisch vorstellen: Sie haben eine Halle gemietet und einfach mit dem Sortieren begonnen?
Geiger: In Berlin hatte das Ministerium für Staatssicherheit ein großes Archiv. Und dann lagerten natürlich auch in den Bezirksstellen jede Menge Akten – oder wurden, um sie zu sichern, in den turbulenten Wendetagen weggeschafft. In Frankfurt an der Oder etwa hatte sie jemand aus zehn Metern Höhe in einen Bunker gekippt. Sie können sich vorstellen, wie diese Ordner ausgesehen haben, als wir die Akten wieder geborgen haben. Wenn wir in Berlin selbst nicht halbwegs geordnete Verhältnisse vorgefunden hätten, hätten wir uns noch viel schwerer getan als ohnehin schon.
Stimmt es eigentlich, dass Ihre Mitarbeiter anfangs gar kein Gehalt bekommen haben, weil sie noch keine Verträge hatten?
Geiger: Ihr Engagement war enorm, obwohl keiner von ihnen am Anfang einen Arbeitsvertrag hatte. Irgendwann haben wir dann einfach drei Gehaltsklassen eingeführt, das hat sich vielleicht nicht ganz mit dem öffentlichen Dienstrecht vertragen, aber es hat funktioniert. Bei Neueinstellungen habe ich übrigens darauf geachtet, dass wir möglichst viele Frauen einstellen. Ich hatte früh schon die Erfahrung gemacht, dass die DDR-Frauen viel tougher waren als die Männer, die vom Regime deutlich stärker unterdrückt worden waren.
Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble wollten die Stasi-Akten für lange Zeit wegsperren oder ganz vernichten – mit dem Argument, sie enthielten so viel Gift, dass es das zusammenwachsende Deutschland sofort wieder spalten würde. Warum war das der falsche Ansatz?
Geiger: Schäuble wollte, wie er selbst sagte, Beton über die Akten gießen, Kohl hätte sie am liebsten verbrannt. Dann aber hätten die ehemaligen Stasi-Offiziere weiter die Macht gehabt. Sie hätten als Einzige gewusst, wer in der DDR welches Problem hatte und wer wen verraten hatte. Außerdem war es für viele Menschen einfach wichtig, zu wissen, ob sie bespitzelt worden waren und, falls ja, von wem. War es die Tante? Die Kollegin? Ein Freund? Wir haben die Macht der Stasi gebrochen und dafür gesorgt, dass die Menschen die Wahrheit erfahren.
Einer der ersten großen Fälle war der der früheren Bürgerrechtlerin Vera Wollenberger, die von ihrem eigenen Mann an die Stasi verraten wurde. Ein spektakuläres Einzelschicksal – oder gab es das häufiger, dass Kritiker des Regimes sogar in der eigenen Familie ausgespäht wurden?
Geiger: Das waren mit die schlimmsten Fälle für mich. Wir hatten eine ganze Reihe von Fällen, in denen Eltern für die Stasi die eigenen Kinder ausgehorcht haben – mit der Folge, dass die Kinder kein Abitur machen durften und damit auch nicht studieren konnten. Umgekehrt haben auch heranwachsende Kinder der Stasi über die eigenen Eltern berichtet – mit teilweise drastischen Folgen für die Eltern. Gelegentlich hatten wir sogar Ehepaare, die beide für die Stasi gearbeitet haben, ohne dass sie es voneinander wussten. Ich erinnere mich an den Fall einer Familienrichterin, die sich in den letzten Monaten der DDR bei den Bürgerrechtlern eingeschlichen und bei dieser Gelegenheit ihre eigene Stasi-Akte vernichtet hatte. Später bewarb sie sich in Brandenburg um eine Richterstelle – in der festen Überzeugung, sie sei sauber, weil man ja nichts mehr über sie finden würde. Ihr Pech war nur, dass ihr Ehemann auch bei der Stasi war und dass in dessen Akte eine Kopie von ihrer Akte lag.
Bei zwei prominenten Politikern, Gregor Gysi von der damaligen PDS und dem früheren brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe, ließ sich der Verdacht, sie hätten der Stasi zugearbeitet, nie zweifelsfrei beweisen. Ist die Behörde hier an die Grenzen des Möglichen gestoßen?
Geiger: Schon im Dezember 1990 kam der Verdacht auf, dass Lothar de Maizière Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gewesen sein könnte, der erste frei gewählte Ministerpräsident der DDR. Ein Politikum! Als ich mit dessen Akten zum damaligen Innenminister Schäuble nach Bonn geflogen bin, wurde ich von Polizeibeamten bis zum Flugzeug gebracht, damit mir ja niemand die Unterlagen entreißt. So hitzig wurde das Stasi-Thema in diesen Monaten behandelt! Wenn ich aber sehe, wie wenig Unterlagen wir gegen Lothar de Maizière zunächst hatten und was wir an Fakten über Stolpe später gefunden haben, dann kann ich nur sagen: Ungünstiger Zeitpunkt, Herr de Maizière. Bei Stolpe waren die Akten umfangreich und für uns war die Lage eigentlich klar. Stolpe aber war damals der wichtigste Mann in der Ost-SPD, eine Integrationsfigur. Deshalb haben viele aus vielleicht sogar nachvollziehbaren politischen Gründen schützend ihre Hand über ihn gehalten. Was Gregor Gysi angeht: Im ersten Bundestag nach der Wiedervereinigung gab es einen Ausschuss, der sich mit den Stasi-Verstrickungen beschäftigt hat. Der hat Gysi nach dem Studium unserer Unterlagen meiner Erinnerung nach empfohlen, sein Mandat als Abgeordneter niederzulegen – was Gysi allerdings nicht getan hat.
Sie haben einen Geheimdienst mit abgewickelt – nämlich die Staatssicherheit. Später wurden Sie selbst Chef zweier Geheimdienste, des Bundesnachrichtendienstes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Was haben Sie dafür in der Gauck-Behörde gelernt?
Geiger: Es gibt vermutlich niemanden sonst, der einen so tiefen Einblick in die Arbeit von gleich drei deutschen Nachrichtendiensten bekommen hat wie ich. Dadurch weiß ich: Auch eine Behörde mit den besonderen Befugnissen eines Nachrichtendienstes muss sich extrem rechtsstaatlich und gesetzestreu verhalten, sie muss korrekt, sauber und transparent arbeiten und sich immer klarmachen, welche Auswirkungen die eigene Arbeit für den einzelnen Bürger haben kann. In der Gauck-Behörde habe ich gelernt, was ein Geheimdienst ohne rechtsstaatliche Verankerung anrichten kann.
Hansjörg Geiger war Staatssekretär im Justizministerium, Präsident des Bundesnachrichtendienstes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Der 77-Jährige, in Brünn geboren und im Allgäu aufgewachsen, arbeitete nach dem Jurastudium zunächst für Siemens. Später war er, unter anderem, Staatsanwalt, Richter und Referatsleiter beim bayerischen Landesbeauftragten für den Datenschutz. Nach der Wiedervereinigung baute Geiger mit Joachim Gauck die Stasi-Unterlagenbehörde auf.
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