
9000 Kinder starben in Kinderheimen - und ganz Irland schaute weg

Plus In Irland hielten Nonnen unverheiratete Mütter für Satansbräute. Sie standen am Rande der erzkatholischen Gesellschaft, mussten in Heime. Was hinter den Mauern geschah.

Die Iren sind, so ist aus sicherer Quelle überliefert, ein redseliges Volk. Besucher aus dem Ausland beobachten stets mit großer Bewunderung, wie auf der Insel Geschichte und Geschichten verschmelzen und die Iren offenherzig und gern erzählen. Nur bei einigen Themen, da verstummten sie über viele Jahrzehnte. Und ließen so zu, dass Tragödien daraus wurden.
Davon zeugt die Geschichte über diese eine Stunde. So kostbar, Philomena Lee sog alle Energie und Kraft daraus. Die schwerfallende Arbeit in der Wäscherei, die harschen Worte der Nonnen. Alles war egal, wenn sie Anthony am Abend Kinderlieder vorsingen konnte. Ihn an sich drücken durfte. In dieser Stunde war sie nicht das gefallene Mädchen, das Schande über die Familie gebracht hatte, als es 1952 schwanger wurde. Die junge Frau, die ins Kloster gesperrt wurde, weil sie einmal Sex mit einem netten Jungen, selbst ein Teenager, hatte. Die mit 18 Jahren nicht einmal wusste, dass man davon schwanger werden konnte. Diese eine Stunde lang war Philomena Lee allein die liebende Mutter von Anthony.
Plötzlich wurde aus Baby Anthony ein Amerikaner namens Michael
Im Dezember 1955 – eine Woche vor Weihnachten, ihr Sohn gerade drei Jahre alt – war es aber jäh vorbei mit Kinderliedern und Umarmungen. Ein US-amerikanisches Ehepaar war angereist, es hatte den Nonnen viel Geld bezahlt – und den Jungen adoptiert. Anthony hieß fortan Michael. Er sollte in einem „guten katholischen Zuhause“ aufwachsen und Philomena Lee sollte dankbar sein. So wurde es der Mutter mit dem gebrochenen Herzen eingetrichtert. „Ich schaute ihm noch nach in einem großen schwarzen Auto, wie er mit seinem kleinen Gesicht aus dem Fenster guckte und sich fragte, wo ich bin.“ Es war das letzte Mal, dass Philomena Lee ihren Sohn sah.
Ohne Kind, dafür voller Verzweiflung wurde sie zwei Wochen später aus dem Mutter-Kind-Heim der Sean Ross Abbey in der irischen Grafschaft Tipperary geworfen. Sie weinte jede Nacht, sagt sie – und schwieg dennoch 50 Jahre lang.
Was sollte die unverheiratete Frau auch tun im erzkatholischen, konservativen Irland, verstoßen vom strengen Vater, verachtet von den mächtigen Geistlichen, stigmatisiert von der schonungslosen Gesellschaft? Ihre Scham und Sorge vor den Reaktionen fraßen sich so in ihre Seele, dass sie selbst ihrem späteren Ehemann und der gemeinsamen Tochter erst im Jahr 2003 von ihren Erlebnissen erzählte. Sie wurden später mit Judi Dench verfilmt.

Ein ähnliches Trauma begleitet nicht nur Philomena Lee schon ihr ganzes Leben. Kürzlich wurde ein Untersuchungsbericht veröffentlicht, in dem die bestürzenden Erfahrungen von Müttern und Kindern dokumentiert sind, die von 1922 bis 1998 in insgesamt 18 Heimen der katholischen Kirche lebten. Der lang erwartete Abschlussbericht über die Vorgänge in den Einrichtungen legt auf 2865 Seiten die Schicksale von rund 56.000 unverheirateten Müttern und etwa 57.000 Kindern offen. Ins Heim kamen all jene Frauen, die in Irland vor dem gesellschaftlichen Skandal flüchteten, unverheiratet schwanger zu sein, selbst wenn sie Opfer von Vergewaltigungen geworden waren.
Kindersterblichkeit in irischen Heimen überdurchschnittlich
Die Kindersterblichkeit lag in den Unterkünften bei 15 Prozent und war damit doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. In mehr als 6000 Fällen wurden die Babys den Müttern weggenommen und an kinderlose Paare, vor allem in den USA, verkauft. Widerstand aus der Bevölkerung kam kaum auf, zu fest war sie im Würgegriff der katholischen Kirche gefangen. Der Klerus bestimmte die unbarmherzigen Moralvorstellungen, der Staat präsentierte sich als verbündeter Erfüllungsgehilfe.
Zeuginnen erinnern sich in dem Report, es ist erschütternd:
„Eine Nonne sagte mir: ,Gott will dich nicht (...) du bist Dreck‘.“
„Du bist hier für deine Sünden“, wurde einer 15-Jährigen vorgeworfen.
Eine ehemalige Bewohnerin wird mit den Worten zitiert: „Man konnte fast die Tränen in den Wänden fühlen.“
Eine andere berichtet, wie die Nonnen die Babys für „Ausgeburten des Satans“ hielten.
„Als ich meiner Familie erzählte, dass ich schwanger bin, nachdem ich vergewaltigt wurde, sagten sie: ‚Schande über dich, schau, was du Daddy angetan hast‘“, erzählt wieder eine andere Frau.
An einer Friedhofsmauer in Tuam hängen dieser Tage zahlreiche selbst gestrickte und gehäkelte Babysöckchen. Die Farben leuchten im irischen Wintergrau. Die Socken und Namenslisten erinnern an all die Kinder, die in dem westirischen Ort in der Grafschaft Galway starben. Heute ist es eine Gedenkstätte. Von 1925 bis 1961 betrieb hier der katholische Orden der Bon-Secours-Schwestern ein Heim für alleinstehende Mütter und ihre nichtehelichen Kinder, das St. Mary’s. Hier begann auch die Untersuchung eines der schwärzesten Kapitel in der Geschichte Irlands, wie es der Regierungschef Micheál Martin bezeichnete. Medien sprachen von „der Schande der Nation“.
Eine Historikerin brachte alles ins Rollen
Die Lokalhistorikerin Catherine Corless brachte mit ihren Recherchen 2014 alles ins Rollen. Dabei gab es schon zuvor Indizien – insbesondere nachdem 1975 der zwölfjährige Barry Sweeney und sein Freund in Tuam beim Spielen eine Betonplatte aufstemmten und eine grausige Entdeckung machten. „Der Raum war gefüllt mit Skeletten“, sagte Sweeney. Damals sorgte der Fund kaum für Furore. „Der Priester kam vorbei und segnete die Grabstätte.“ Die Behörden dachten, die Knochen gehörten den Opfern einer Hungersnot aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Catherine Corless glaubte das nicht. Die Wissenschaftlerin wollte herausfinden, wessen Skelette da übereinander geschichtet lagen. Für ihre Recherchen durchforstete sie die Geburts- und Sterberegister der Region und fand heraus, dass im Laufe von mehr als drei Jahrzehnten 796 Kinder, die in dem Heim in Tuam gelebt hatten, ums Leben kamen. Die meisten Toten waren zwischen drei Wochen und 13 Monate alt. Doch nur für ein Kind fand Corless Nachweise für eine Bestattung.
Die Einrichtung besaß einen zweifelhaften Ruf. Babys wurden von den Nonnen vernachlässigt, starben an den Folgen von Unterernährung oder an Tuberkulose, Lungenentzündungen und Masern. Frauen wurden als Arbeitskräfte ausgebeutet, manche der neugeborenen Mädchen und Jungen als Versuchskaninchen von Pharmakonzernen missbraucht. Auf dem Gelände entdeckten Experten vor wenigen Jahren unterirdische Anlagen mit 20 Kammern. In 17 davon fanden sie „erhebliche Mengen menschlicher Überreste“. Föten, Babys und Kleinkinder im Alter von bis zu drei Jahren wurden in einfache Leichentücher gehüllt und in der alten ausgedienten Abwassergrube vergraben – völlig anonym. Särge gab es nicht. Keine Grabsteine. Keine Markierungen. Dafür wurden manche Leichen in Schuhkartons gesteckt oder in Teppiche gewickelt. Die Mütter der Kinder blieben gedemütigt zurück.
9000 tote Kinder. Mindestens.
Im Heim aufgewachsen und von der Mutter getrennt
Winnifred Carmel Larkin gehört zu jenen, die überlebten. Die Irin wurde 1949 im St. Mary’s-Heim in Tuam geboren und blieb – gezwungenermaßen – für fünfeinhalb Jahre, bevor sie zu einer Pflegefamilie kam. Die Wut darüber, wie ihre Mutter behandelt wurde, lässt sie nicht los. Larkin sah sie nie wieder. Sie weiß nicht, wo sie beerdigt ist. „Ich bin entsetzt, dass ein Mensch Babys und Mütter so behandeln konnte“, sagte sie Journalisten.
In den Augen der Nonnen waren die Mütter „Sünderinnen“. Dabei sei es doch das wertvollste Geschenk für jede Frau, ein Baby zur Welt zu bringen, meint Larkin. Die Irin nennt die Grausamkeiten in den Eltern-Kind-Heimen „unseren Holocaust“.

Längst hat die Kirche auf der Grünen Insel ihre Vormachtstellung eingebüßt, an Autorität und Glaubwürdigkeit verloren. Mittlerweile ist in Irland die gleichgeschlechtliche Ehe erlaubt und das Abtreibungsverbot wurde gelockert, beides erzielt durch überwältigende Mehrheiten bei Referenden – und beides Ausdruck einer modernen Gesellschaft. Die katholische Kirche kämpft um ihr Ansehen. Aber dieser Kampf scheint wenig aussichtsreich.
Der Bericht enthülle eine „über mehrere Jahrzehnte andauernde zutiefst frauenfeindliche Kultur in Irland, die gekennzeichnet war von einer gravierenden und systematischen Diskriminierung gegenüber Frauen“, sagte Premierminister Micheál Martin. Er entschuldigte sich im Parlament „im Namen der Regierung, des Staates und seiner Bürger“ für das Leid und wandte sich an die Opfer: „Jede von Ihnen ist unschuldig.“ Es gebe nichts, wofür man sich schämen müsste. „Jede von Ihnen hätte so viel Besseres verdient.“ Es sei „eine bittere Wahrheit“, dass die gesamte Gesellschaft eine Mitschuld trage. Auch Irlands Erzbischof Eamon Martin bat um Entschuldigung. Die Kirche sei Teil einer Geisteshaltung gewesen, „in der Menschen häufig stigmatisiert und abgelehnt wurden“, sagte der Vorsitzende der irischen Bischofskonferenz.
Die Betroffenen in Irland wollen Antworten
Den Betroffenen reichen diese Beteuerungen nicht, insbesondere weil der Bericht mit dem Finger auf die Familien der ledigen Mütter sowie auf die bis heute schweigenden Väter zeigt. Sie betonen, wie es der den Staat und die Gesellschaft überspannende Einfluss der Kirche war, der Familien wie Frauen das Gefühl gab, keine Wahl zu haben. Sie fordern Antworten.
9000 Kinder. Wo anfangen angesichts all der Tragödien?
Die Tageszeitung Irish Examiner wählte in der vergangenen Woche die Titelseite und gedachte darauf der Opfer des Heims in Bessborough in der Grafschaft Cork. „1922 Nora Cronin. Fünf Monate. Gestorben am 30. Dezember 1922. 1923 Patrick Creedon. Fünf Monate. Gestorben am 12. März 1923. John Coughlan. Fünf Monate. Gestorben am 26. März 1923. Mary Daly. 14 Monate. Gestorben am 25. April 1923...“ So ging es auf dieser Titelseite immer weiter, mit hunderten Namen. „...1989 Leona B. Drei Wochen, fünf Tage. Gestorben am 10. Juli 1989. 1990 Paula M. Ein Jahr, zwei Monate. Gestorben am 28. Januar 1990. 1994 Zoe B. Zwei Tage. Gestorben am 10. August 1994.“
Zwischen den Namen stand der Satz: „Mögen sie in Frieden ruhen.“
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