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„Islamischer Staat“: Überall Sprengsätze: Im Irak lauert der Tod am Wegesrand

„Islamischer Staat“

Überall Sprengsätze: Im Irak lauert der Tod am Wegesrand

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    Abseits des Weges droht Lebensgefahr. Auch für die Minenräumer der gemeinnützigen Organisation Handicap International. Sie riskieren im Irak ihr Leben für andere.
    Abseits des Weges droht Lebensgefahr. Auch für die Minenräumer der gemeinnützigen Organisation Handicap International. Sie riskieren im Irak ihr Leben für andere. Foto: Till Mayer

    Der Weg am Ortsrand von Beshir im Irak wirkt wenig spektakulär. Unbefestigt und schnurgerade zieht er sich durch grüne Wiesen, quer durch flaches Land. Der Schein trügt. Am Anfang stehen zwei Container. "Voll mit entschärften Sprengsätzen", weiß Saad Allah Jumaa Shakur. "Früher befand sich auf dem Weg eine Bahnlinie, die die Engländer gebaut haben", fügt der 53-jährige Bauer hinzu. Und erzählt, wie er als Junge auf den Schienen balanciert ist. Manchmal lief er kilometerweit an ihnen entlang. Die Bahnlinie – ein Abenteuer für einen neugierigen Jungen.

    Jahre später wurde die Zugverbindung eingestellt. Die Schienen und das Schotterbett verschwanden. "Nichts erinnert mehr an die Bahn", sagt Shakur nun halb zu sich selbst. Doch der Weg führt heute, genau zehn Jahre nachdem der damalige US-Präsident Barack Obama offiziell das Ende des Kampfeinsatzes im Irak verkündete, weiterhin in ein Abenteuer. In eines aber, das schnell tödlich enden kann.

    Die Islamisten haben Häuser gesprengt und auf Feldern Minen versteckt

    Besonders für die Hirtenjungen, die hier Schafe auf die Wiesen treiben. Gerade zieht ein Teenager mit einer Herde vorbei. "Sei vorsichtig, Junge", ruft ihm Shakur hinterher. Ein halbes Dutzend Hirten seien rund um Beshir schon bei Explosionen ums Leben gekommen, erklärt er. Andere überlebten versehrt oder schwerst verwundet. "Links vom Weg haben sie die Sprengsätze bereits weggeräumt. Da ist es für Mensch und Tier sicher." Die Herde dreht in diese Richtung ab, Shakur atmet auf.

    Der „Islamische Staat“ hat Saad Allah Jumaa Shakurs Haus zerstört.
    Der „Islamische Staat“ hat Saad Allah Jumaa Shakurs Haus zerstört. Foto: Till Mayer

    Rechts vom Weg droht in wenigen hundert Metern Gefahr. Dorthin laufen drei Männer. Sie haben Schichtbeginn. Die Morgensonne taucht das Trio in den hellblauen Schutzwesten in ein mildes Licht. Keine zehn Minuten brauchen die Minen- und Bombenentschärfer der gemeinnützigen Organisation Handicap International, dann sind sie an ihrem Arbeitsplatz angekommen – bei den roten Holzpflöcken. Wo diese stecken, ist ungesichertes Land. Weiße Pflöcke zeigen dagegen an: geräumt.

    Vor den Männern öffnet sich ein weites Feld mit langen Reihen roter Pflöcke. Es gehört Saad Allah Jumaa Shakur. In seinem Grund und Boden, in der Erde vergraben oder im Gras versteckt, wartet der Tod.

    Beshir stand unter der Kontrolle des IS

    Beshir stand bis 2017 unter der Kontrolle des sogenannten Islamischen Staates (IS), jener Terrororganisation, die alle hier Daesh nennen. Die Bewohner, meist Angehörige einer turkmenischen Minderheit, flohen. "Taten sie es nicht, wurden sie getötet. Ich habe viele Familienmitglieder verloren", sagt Shakur. Die Islamisten hätten zahlreiche Häuser in Beshir gesprengt, auch seines. Später mussten sie vor der irakischen Armee und verbündeten Milizen fliehen, als diese das 800-Einwohner-Dorf zurückeroberten. Die IS-Terroristen gingen nicht ohne eine weitere Grausamkeit.

    Shoresh Quasim Ahmed spürt Sprengsätze auf.
    Shoresh Quasim Ahmed spürt Sprengsätze auf. Foto: Till Mayer

    "Daesh hat in den Feldern selbst gebaute Minen versteckt. Dazu kommen noch Blindgänger", sagt Shoresh Quasim Ahmed. Der 32-Jährige arbeitet im Team der Minen- und Bombenentschärfer von Handicap International. Seit 2008 spürt er die Hinterlassenschaften des IS im Boden auf. Nicht nur in dieser Gegend lauert der Tod: Minenfelder an der ehemaligen Frontline des Iran- und Irakkriegs der 1980er Jahre, nicht detonierte Bomben aus zwei Golfkriegen der US-Amerikaner und ihrer Alliierten gegen Saddam Hussein oder Blindgänger aus dem jüngsten Bürgerkrieg durchziehen das Land. Für einen wie Ahmed wird es lange Arbeit geben, selbst wenn ein stabiler Frieden im Irak einkehren sollte.

    Bis dahin ist es ein steiniger Weg. Die Zeichen stehen in einigen Landesteilen auf Sturm: In ihren ehemaligen Hochburgen wie Al-Hawidscha sind die IS-Kämpfer erneut aktiv. Legen Sprengsätze, verüben Anschläge, liefern sich Gefechte. Seit dem Einmarsch der Amerikaner 2003 hat sich nichts daran geändert: Der Irak als Staat ist ein äußerst fragiles Gebilde.

    Die Lage im Irak ist äußerst fragil - und nun kommt auch noch Corona hinzu 

    Die Hoffnungen, dass sich das ändert, sind gering. Denn die politische Situation hat sich in den letzten Monaten verschärft. Die Ursachen sind vielfältig. Im Norden des Landes schickt sich die Türkei an, ihre Positionen militärisch auszubauen. Die Regierung in Ankara rechtfertigt das damit, dass sie im Nachbarland Terrorgruppen wie die kurdische PKK bekämpfe. Dahinter steckt – wie schon in Syrien – die Sorge vor einem autonomen kurdischen Gebiet jenseits der türkischen Grenze. Die irakische Regierung hat über den Norden des Landes längst die Kontrolle verloren.

    Es ist nicht das einzige Problem von Regierungschef Mustafa al-Kadhimi. Die politische Instabilität, die durch die andauernde Rivalität zwischen Sunniten und Schiiten gespeist wird, lähmt das Land seit vielen Jahren. Auch das ist ein Grund dafür, dass der IS wieder zu einer ernst zu nehmenden Bedrohung geworden ist. Der schrittweise Rückzug der US-Truppen – noch sind rund 5000 amerikanische Soldaten im Land – könnte zudem den ohnehin bereits großen Einfluss des Iran verstärken.

    Hinzu kommt die prekäre Menschenrechtslage im Irak. Proteste gegen die Regierung werden oft äußerst brutal zerschlagen. Eine vom Parlament eingesetzte Kommission für Menschenrechte meldete, dass seit Herbst 2019 über 450 Iraker bei Demonstrationen und Protestaktionen ums Leben gekommen sind.

    Wer die Situation anprangert, lebt gefährlich: Seit einigen Wochen erlebt der Irak eine Serie von Morden an Menschenrechtsaktivisten. Es lässt sich leicht ausrechnen, dass ein Land in einer derart aufgeheizten Situation kaum in der Lage ist, die Bevölkerung wirksam vor dem Coronavirus zu schützen. Pro Tag soll es zum Teil mehr als 3000 Neuinfektionen geben. Rund 7500 Iraker sollen Opfer der Pandemie geworden sein. Die Datenlage ist allerdings unübersichtlich. Ungeachtet der Gefahr feierten am Wochenende etwa eine halbe Million Schiiten das Aschura-Fest – eng an eng, ohne Schutzmasken.

    So ist das Leben im Irak immer wieder auch einen Kampf ums Überleben.

    Entschärfer darf sich keine Fehler erlauben

    Saad Allah Jumaa Shakur, der Bauer aus Beshir, bringt Shoresh Quasim Ahmed, dem Minenräumer, daher höchsten Respekt entgegen. "Diese Männer setzen ihr Leben aufs Spiel, damit wir wieder unsere Felder und Wiesen nutzen können. Damit wir unsere Häuser wieder aufbauen können." Den Grund, auf dem sein Haus einst stand, hat er vom Schutt geräumt. Zurückgekehrt ist er noch nicht. Anders als sein Bruder, der sein Haus neu aufgebaut hat. Auf ihren benachbarten Parzellen türmen sich die Trümmer und mit ihnen die Erinnerungen an verstorbene Familienmitglieder. Nicht jedem gelang die Flucht vor dem "Islamischen Staat".

    "Wenn mein Grund frei von Sprengsätzen ist, dann können wir als Bauern unseren Lebensunterhalt bestreiten", sagt Shakur. Doch Beshir wird nie mehr so sein, wie es einmal war.

    Auf dem Feld greift Shoresh Quasim Ahmed nach seinem Detektor. Sein bärtiges Gesicht schützt er durch eine Plexiglasscheibe, seinen Oberkörper durch eine Splitterweste. Fehler darf er sich in seinem Beruf nicht erlauben. Vor Jahren verlor ein Kollege, ein guter Freund von ihm, bei einer Explosion ein Bein. "Wenn ich einen Sprengsatz gefunden habe und ihn entschärfe, dann ist es, als würde ich am eigenen Grab arbeiten. So unfassbar nahe am Tod", sagt der 32-Jährige.

    Vor zehn Jahren erklärte US-Präsident Obama das Ende des Kriegseinsatzes

    Auf den Feldern und Wiesen von Beshir funktionieren die selbst gebauten Sprengsätze des "Islamischen Staates" wie Landminen. Die Terroristen versahen Granaten oder TNT-Sätze mit einem Zünder, versteckten sie im Grün oder vergruben sie. Der Zünder löst bei Berührung aus. Es kann ein Schaf sein, das es dann zerreißt. Oder ein Hirtenjunge. Den Kindern im Dorf wird eingeschärft: "Spielt nur auf sicherem Grund!" Loszulaufen, um ein wenig von der Ferne zu träumen, wie es Shakur tat – für die Kinder von Beshir ist das nicht mehr möglich.

    Shoresh Quasim Ahmed macht das wütend: "Was sind das für Menschen, die solche Sprengsätze bauen? Selbst in Teddybären verstecken sie sie." Und ihn plagt noch ein anderes Problem. "Jeden Tag, wenn ich zur Arbeit gehe, fürchtet meine Frau, dass ich nicht mehr zurückkomme. Das ist eine Belastung für unsere Familie. Je älter meine drei Kinder werden, umso mehr verstehen sie, wie gefährlich es ist, was ihr Vater macht", erzählt er. Seine eigene Angst dürfe er sich vor der Familie nicht anmerken lassen.

    Seinen Beruf will er trotzdem nicht wechseln. Allein im Gebiet rund um Beshir fanden Kollegen und er bis jetzt 206 selbst gebaute Sprengsätze und 715 Blindgänger. "Das macht mich stolz. Wir können Leben retten. Dafür ist kein Einsatz zu hoch", sagt Ahmed.

    Für diesen Satz würde ihn Ibrahim Abdullah wohl gerne in die Arme nehmen. Wenn es der 48-Jährige denn könnte. Am 25. Mai 2019 verlor er beide Beine und einen Arm bei einer Explosion. In seinem Heimatort nahe Al-Hawidscha steckte der "Islamische Staat" ein Feld in Brand. Als Abdullah mit seinen Nachbarn zum Löschen kam, fuhren sie in eine präparierte Sprengfalle. Nun sitzt er in einem elektrischen Rollstuhl, den er von Handicap International erhalten hat.

    Welche Hoffnungen sich Iraker machen 

    Drei Männer im Irak, die das Schicksal verbindet – und die Hoffnung. Ibrahim Abdullah träumt davon, eines Tages mit Spezialprothesen laufen zu können. Shoresh Quasim Ahmed, der Entschärfer, hofft, dass sein Arbeitstag damit endet, dass er sich wieder auf den Weg zu seiner Familie machen kann. Und Saad Allah Jumaa Shakur, der Bauer, wünscht sich, dass seine Enkel irgendwann einmal einen kleinen Ausflug in die Ferne unternehmen werden können, auf dem Weg am Ortsrand von Beshir. Wie er einst in seiner Kindheit. Unbeschwert und ohne sich vor dem Tod fürchten zu müssen.

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