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Angst und Proteste in Sachsen-Anhalt: Keine Rettungsinsel für Sexualstraftäter

Angst und Proteste in Sachsen-Anhalt

Keine Rettungsinsel für Sexualstraftäter

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    Anwohnerin Ilona Berg (l.) hält am Montag (19.09.11) in Stendal im Ortsteil Insel bei einem Protest gegen zwei zugezogene aus der Sicherungsverwahrung entlassene Sexualstraftäter mit weiteren Dorbewohnern vor dem Haus (r.), in dem die Sexualstraftaeter untergebracht sind, ein Transparent mit der Aufschrift "Wir wollen keine Sexualstraftäter in unserem Dorf". Seit Wochen gibt es Proteste und Demonstrationen von Einwohnern gegen die zwei aus der Sicherungsverwahrung entlassene Straftäter.
    Anwohnerin Ilona Berg (l.) hält am Montag (19.09.11) in Stendal im Ortsteil Insel bei einem Protest gegen zwei zugezogene aus der Sicherungsverwahrung entlassene Sexualstraftäter mit weiteren Dorbewohnern vor dem Haus (r.), in dem die Sexualstraftaeter untergebracht sind, ein Transparent mit der Aufschrift "Wir wollen keine Sexualstraftäter in unserem Dorf". Seit Wochen gibt es Proteste und Demonstrationen von Einwohnern gegen die zwei aus der Sicherungsverwahrung entlassene Straftäter. Foto: Eckehard Schulz/dapd

    Die ganze Wut der Hannelore Röhlicke dröhnt aus einer schwarz-rot-goldenen Vuvuzela. Nach hinten gelehnt richtet die kleine Rentnerin ihre Tröte auf ein Fenster im ersten Stock, wo hinter Gardinen Licht brennt. Sie atmet tief ein und schickt mit hochrotem Kopf die nächste donnernde Fanfare ab. Röhlicke hat sich Taschentuchfetzen in die Ohren gesteckt, auf einem Schild, das ihr um den Hals hängt, steht „Haltet euer Versprechen! Verlasst Insel“.

    Es ist, als blase die weißhaarige 68-Jährige zur Jagd. Zur Jagd auf die neuen Nachbarn. Erlegen wollen Hannelore Röhlicke und ihre hundert Mitstreiter sie nicht, sie wollen sie vertreiben. Mit Lärm. Bewaffnet mit Trommeln, Ratschen und Kochgeschirr sind sie vor das heruntergekommene Haus in der Ortsmitte gezogen und vollführen damit ein Getöse, dass es kracht.

    Oben im ersten Stock beobachten Richard Apold und Thomas Ludowski (Namen geändert) durch einen Spalt in den Gardinen, was vor ihrer Haustür geschieht, was die Leute rufen, was auf ihren Transparenten steht. Zum Beispiel: Wir wollen keine Sexualstraftäter in unserem Dorf. „Die ersten vier Wochen war alles gut“, sagt Thomas Ludowski, ein 64-jähriger Mann mit weißen Haaren und einem Vollbart, der vom Zigarettenqualm vergilbt ist.

    Ein Psychologe hat ihre angebliche Ungefährlichkeit attestiert

    Mitte Juli sind die beiden ehemaligen Sicherungsverwahrten von Freiburg in das kleine Dörfchen Insel bei Stendal in Sachsen-Anhalt gezogen. 400 Menschen leben hier, der letzte Laden hat vor Jahren dichtgemacht, neben dem Ortseingangsschild stehen Kühe auf der Weide, es riecht nach umgepflügten Feldern. Richard Apold und Thomas Ludowski wollten hier einen Neuanfang wagen, nachdem die Polizei in Freiburg die Dauerüberwachung der beiden eingestellt, ein Psychologe ihnen angebliche Ungefährlichkeit attestiert und das Landgericht dem Umzug zugestimmt hatte. Doch mit dem neuen Leben in Ruhe und Freiheit ist es schnell vorbei gewesen, gerade weil sie sich integrieren wollten.

    „Richard sucht Arbeit als Holzmechaniker und ist deswegen zur Arbeitsagentur in Stendal gegangen“, erzählt Thomas Ludowski, der eine schwarze Jogginghose und Turnschuhe trägt. Dort habe er wie jeder andere Angaben zu seiner Vergangenheit machen müssen, also auch zu seiner Zeit im Gefängnis. „Wir vermuten, dass sich der Sachbearbeiter mit dem Namen und der Information auf die Suche gemacht hat, vielleicht hat er beim Innenministerium nachgefragt.“

    Danach dauerte es nur wenige Tage, bis in Insel – wo jeder jeden kennt – auch jeder die Vergangenheit von Richard Apold und Thomas Ludowski kannte: Beide haben vor mehr als 25 Jahren unter Alkoholeinfluss mehrfach Frauen vergewaltigt. Eines der Opfer von Thomas Ludowski war damals gerade einmal 15 Jahre alt. Apold fiel mehrfach über blonde Taxifahrerinnen her und wurde wegen Vergewaltigung, gefährlicher Körperverletzung und Raub inhaftiert.

    Nach ihrer Zeit im Gefängnis wurde bei beiden zum Schutz der Bevölkerung nachträglich Sicherungsverwahrung angeordnet. Im Herbst 2010 kamen die beiden Männer aus der JVA Freiburg frei, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg diese nachträgliche Sicherungsverwahrung für unrechtmäßig erklärt hatte. Die Polizei in Freiburg überwachte daraufhin jeden ihrer Schritte rund um die Uhr mit bis zu elf Beamten und zwei Begleitfahrzeugen. 40.000 Euro kostete das pro Woche.

    Das Dorf ist in Aufruht, auch gegen den Vermieter

    Doch wie lassen sich ehemalige Sexualstraftäter in die Gesellschaft integrieren? In Freiburg wollte niemand Richard Apold und Thomas Ludowski eine Wohnung vermieten. Deshalb wohnten sie zunächst im Freigängerheim der JVA. Bis ihnen der Freiburger Tierarzt Edgar von Cramm, der die Wellensittiche von Ludowski schon während der Zeit im Gefängnis behandelt hatte, einen Umzug nach Insel vorschlug, in ein Haus, das er geerbt hat. „Ich wollte etwas Gutes tun“, betont von Cramm.

    Drei Mal die Woche wird gegen die Ex-Häftlinge demonstriert

    Seitdem die Bürger von Insel allerdings wissen, wer da nun unter ihnen lebt, ist das Dorf in Aufruhr, auch gegen den Tierarzt. „Ich habe die Brisanz unterschätzt“, gesteht von Cramm. Bei einer Bürgerversammlung in Insel beteuerte er kürzlich, seine Mieter säßen auf gepackten Koffern und seien bereit, den Ort zu verlassen, sobald es eine andere Lösung gibt. Doch die ist nicht in Sicht. In ein paar Tagen will von Cramm wieder nach Insel fahren, um die verunsicherten Bürger zu beschwichtigen. „Ich traue mich nicht mehr, mit dem Fahrrad über die Dörfer zu fahren“, sagt Hannelore Röhlicke nun. Auch die Kinder könnten sie in Insel nun nicht mehr allein auf den Spielplatz lassen. Deshalb habe sie sich den Demonstrationen angeschlossen, die montags, mittwochs und freitags jeweils um halb sieben vor dem Haus der beiden Männer stattfinden. Eine Stunde Krach, dann ziehen die Demonstranten wieder ab. „Wir kommen so lange hierher, bis die beiden Insel verlassen“, schwört Röhlicke.

    An einem Abend mischten sich sogar vermummte Mitglieder einer rechten Kameradschaft unter die Demonstranten. Auch deshalb stehen nun bei jeder Demonstration drei Polizeiwagen und sechs Beamte vor dem Haus – zum Schutz der Bewohner.

    „Der Lärm ist unerträglich“, sagt Thomas Ludowski, „dagegen war sogar die Dauerüberwachung in Freiburg Gold wert.“ Doch wegziehen, um vor dem Krach zu fliehen, wolle er nicht. „Wie auch? Wir haben gar kein Geld dafür.“ 3000 Euro habe er durch seine Arbeit als Installateur im Knast gespart, das Geld sei durch den Umzug nach Insel aufgebraucht. Außerdem gebe es auch Menschen in Insel, die ihnen wohlgesonnen seien.

    Der Anwalt der beiden, Ekkehard Kiesswetter, hat mittlerweile bei der Staatsanwaltschaft Stendal Anzeige gegen die Demonstranten erstattet. „Freien Menschen das Recht auf die freie Wahl ihres Wohnorts ohrenbetäubend abzusprechen, erfüllt nach meiner Auffassung den Tatbestand der Nötigung und Körperverletzung“, sagt der Jurist.

    Versammlungsführer der Demonstrationen ist der Bürgermeister von Insel, Alexander von Bismarck, ein Mann mit lichtem, grauem Haar und schwarzer Steppjacke. Bei jeder Demo war er bisher dabei. „Wenn man es ehrlich gemeint hätte, dann hätte man die Bürger von Insel vorher informiert, statt ihnen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zwei Flöhe in den Pelz zu setzen“, ereifert er sich. „Die Sicherheit der Menschen hier ist wichtiger als das Wohl von Sexualstraftätern.“ Bis auf zwei, drei Nachbarn dächten alle Menschen im Dorf so, versichert von Bismarck. Ein Bürger aus dem Nachbarlandkreis hatte den Ortsbürgermeister allerdings wegen Volksverhetzung angezeigt. Die Staatsanwaltschaft Stendal wies die Anzeige jedoch ab.

    Auf der anderen Straßenseite ist Katrin Klarowitz vor die Tür ihres Hauses getreten, um eine Zigarette zu rauchen. Mit abschätziger Miene schaut die dunkelhaarige Frau, Mitte 40, hinüber zu den Demonstranten. „Meine Tochter ist mit elf Jahren hier im Dorf vergewaltigt worden“, erzählt sie. Als sie den Täter anzeigte, hätten ihr Leute im Dorf vorgeworfen, sie versaue das Leben des jungen Mannes. „Einige von diesen Leuten stehen heute da drüben und demonstrieren gegen Sexualstraftäter, die für ihre Taten 25 Jahre gebüßt haben.“

    Sie habe ein gutes Verhältnis zu Apold und Ludowski, versichert Klarowitz, mittlerweile duze man sich und trinke ab und zu einen Kaffee. „In Insel gibt es auch viele, die Richard und Thomas eine Chance geben wollen“, sagt sie. „Das sind freie Menschen, keine Tiere.“ Sie und ein paar andere Bürger planen eine Gegendemonstration.

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