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Mangelnde Digitalisierung: TK-Krankenkasse warnt vor "Amazonisierung" der Gesundheitsbranche

Mangelnde Digitalisierung

TK-Krankenkasse warnt vor "Amazonisierung" der Gesundheitsbranche

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    Die Amazon-Angestellten sollen erst im kommenden Jahr in die Büros zurückkehren.
    Die Amazon-Angestellten sollen erst im kommenden Jahr in die Büros zurückkehren. Foto: Patrick Pleul, dpa

    Der Chef der Techniker Krankenkasse Jens Baas warnt vor einer Bedrohung des deutschen Gesundheitssystems durch eine „Amazonisierung“ amerikanischer Großkonzerne angesichts großer Digitalisierungs-Defizite in Deutschland. „Für das Gesundheitssystem ist die mangelnde Digitalisierung langfristig eine existenzielle Bedrohung, wie sie andere Branchen längst erleben“, sagte Baas im Interview mit unserer Redaktion.

    Digitalkonzerne wie Amazon, Google und viele andere hätten mit ihrer ungeheuren Datenmacht ganze Branchen tiefgreifend verändert. „Auch unser Gesundheitssystem ist gegen eine „

    TK-Chef: Veraltete Zustände werden Menschen nicht ewig akzeptieren

    „Die große Herausforderung lautet, wie reformieren und digitalisieren wir unser Gesundheitssystem rechtzeitig, damit nicht Digitalkonzerne mit sehr viel Geld und vor allem sehr vielen Daten von Kundinnen und Kunden irgendwann die Richtung vorgeben“, sagte Baas. „Dann bestimmen nicht mehr Politik und Gesellschaft die Regeln, sondern eben kommerzielle Player. Ich halte das für eine sehr reale Gefahr.“

    TK-Chef Jens Baas  gilt als Verfechter der Digitalisierung im Gesundheitssystem
    TK-Chef Jens Baas gilt als Verfechter der Digitalisierung im Gesundheitssystem Foto: Andreas Friese

    Dies könne die Gesundheitsbranche nur verhindern, indem sie selbst gute digitale Angebote machen. „Das erwarten auch die Menschen“, betonte Baas. „Veraltete und langwierige Prozesse werden die Menschen auch im Gesundheitssystem nicht mehr beliebig lange akzeptieren“, fügte er hinzu.

    Arztwahl Glücksache statt transparenter Information

    „Die Suche nach der besten Versorgung ist derzeit oft Glückssache“, sagte Baas . „Wer heute einen bestimmten Arzt sucht, hört sich vielleicht im Bekanntenkreis um.“ Oder man verlasse sich auf Arztvergleiche oder wählt eben die nächstgelegene Behandlungsmöglichkeit. „Das kann nicht die Zukunft sein“, warnte Baas. „Wer online einkauft, schaut sich auch an, was tausende Kundenbewertungen ergeben. Wenn wir diese Lücke nicht mit guten Angeboten füllen, werden das die kommerziellen Digitalkonzerne tun“, warnte Baas.

    „Zum Beispiel müssen wir die Qualität von Klinikbehandlungen transparent machen, nicht nur für Patientinnen und Patienten, sondern auch für Fachleute“, forderte er. Ein Patient, der sich beispielsweise an der Prostata operieren lassen muss, will wissen, welche Klinik nach der OP die niedrigste Quote an Inkontinenzfällen hat.“

    Mangelnde Digitalisierung schadet Patienten

    Der Chef der Techniker Krankenkasse fordert deshalb von der kommenden Bundesregierung eine grundlegende Gesundheitsreform für mehr Digitalisierung und der Finanzierung von mehr Qualität statt Quantität bei Behandlungen. „Die fehlende Vernetzung und die mangelnde Digitalisierung machen unser System nicht nur teurer, sondern schaden auch den Patientinnen und Patienten“, sagte TK-Chef Baas. „Deshalb erwarte ich von der kommenden

    Digitalisierung heiße immer, dass Dinge transparenter werden. „Aber diese Transparenz wollen viele nicht, denn sie macht auch sichtbar, wer gut oder schlecht arbeitet““, sagte Baas. „Auch die Pharmaindustrie hat Angst, dass man sieht, welches Medikament was taugt und welches nicht.“ Der Widerstand erfolgt laut Baas jedoch nicht offen. „Natürlich sagt niemand, er will keine Transparenz. Dann heißt es, das scheitert am Datenschutz oder an zu hohen Kosten.“

    Krankenhäuser sollten nach Qualität statt Quantität bezahlt werden

    Besonders in der Krankenhausfinanzierung müsse viel stärker die Qualität eine Rolle spielen. „Um Qualität zu messen brauchen wir vernünftige Daten“, betonte Baas. Neben Strukturdaten setzt der TK-Chef auf die Freiwilligkeit von Versicherten ihre digitalen Gesundheitsdaten anonymisiert für Qualitätsmessungen bereitzustellen. „Wir wissen, dass viele Menschen zu anonymen Datenspenden bereit sind, wenn es ihnen selbst oder anderen hilft.“ Klinken müssten für gute Qualität belohnt werden, statt ansonsten Abschläge befürchten zu müssen. „Zahlungskürzungen nach dem Motto „schlecht aber billig“ wären unmoralisch gegenüber den Patienten“, sagte Baas. „Wer dauerhaft mangelhafte Leistung bringt, sollte raus aus der Versorgung.“

    Zudem müssten die Kliniken stärker für nach der Vorhaltung der Notfallversorgung finanziert werden und nicht länger unter Druck gesetzt, auf finanziellen Gründen jedes Bett zu belegen, etwa durch unnötige Operationen, forderte Baas. „Wir müssen uns aber auch ehrlich die Frage stellen, wie viele Betten wir wirklich brauchen“, betonte der TK-Chef. „Wir haben die höchste Zahl an Krankenhausbetten pro Einwohner in Europa und unser Finanzierungssystem führt dazu, dass es sich lohnt, die Betten zu füllen. Weniger Betten bedeuten weniger unnötige Fälle.“

    Liegt der Pflegemangel an zu vielen unnötigen Operationen?

    Das Überangebot an Klinikbetten sei mit ein Hauptgrund für den Pflegemangel in Deutschland, sagte Baas. Deutschland gebe es13 Krankenpflegekräfte auf 1000 Einwohner, im europäischen Durchschnitt dagegen nur rund acht. „Das heißt, obwohl wir viel mehr Krankenpflegekräfte pro Einwohner haben, muss jede einzelne viel mehr Menschen betreuen“, betonte Baas. „Das führt natürlich zu Stress und Unzufriedenheit und geht auf Kosten der Patientinnen und Patienten und der Qualität“, kritisierte er.

    „Statt nur zu fragen, wie bekommen wir so viele Pflegekräfte wie möglich ausgebildet, sollten wir also fragen, wie es gelingt, nur so viele Betten zu haben, wie wir brauchen.“ Dazu sei eine übergeordnete Krankenhausplanung nötig, da es für Politiker vor Ort „fast politischem Selbstmord“ gleiche, eine Klinik zuschließen. „Eine vernünftige Versorgung auf dem Land erreichen wir nicht, indem wir schlecht ausgestattete Krankenhäuser mit wenig Spezialwissen auf Biegen und Brechen erhalten“, sagte Baas. Stattdessen brauche es neue Versorgungskonzepte. „Dazu gehören regionale Gesundheitszentren, in denen niedergelassene Ärzte tätig sind“, sagte Baas. „Diese Zentren können auch Notfallversorgung oder stationäre Aufenthalte bei bestimmten Eingriffen anbieten.“

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