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Schule: Lehrerverband: Abiturnoten sind nichts mehr wert

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Lehrerverband: Abiturnoten sind nichts mehr wert

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    In Deutschlands Klassenzimmern sinkt das Niveau, heißt es aus dem Deutschen Lehrerverband. Präsident Josef Kraus ist sicher: Die Zensuren sind nicht fair.
    In Deutschlands Klassenzimmern sinkt das Niveau, heißt es aus dem Deutschen Lehrerverband. Präsident Josef Kraus ist sicher: Die Zensuren sind nicht fair. Foto: Felix Kästle, dpa (Symbolbild)

    Herr Kraus, Sie sind Sprecher von 160.000 Lehrern aus allen weiterführenden Schulen und Bundesländern. Sie haben den Vergleich: Ist das bayerische Schulsystem wirklich so toll, wie die Politik immer sagt?

    Josef Kraus: Ich bin schulpolitisch bayerisch geprägt, und das ist – glaube ich – auch der Grund, warum ich als Präsident des Deutschen Lehrerverbands so häufig wiedergewählt wurde. Ich komme aus einem Bildungssystem, wie es andere Länder gerne hätten. Wir haben in Deutschland ein extremes Leistungsgefälle zwischen Süd und Nord. Das liegt nicht an den Schülern und Lehrern, sondern an der Schulpolitik. Aber auch Bayern hat zum Beispiel bei der Bildungspolitik am Gymnasium eine Leiche im Keller. Es ist nicht alles toll.

    Welche Leiche?

    Kraus: In Deutschland werden immer bessere Abiturnoten vergeben. In manchen Bundesländern ist das extrem. In Berlin hat sich die Zahl der Schüler mit der Traumnote 1,0 von 2002 bis 2012 vervierzehnfacht. Bayern hat diese Inflation an Supernoten ein Stück weit mitgemacht. Man hat manipulativ nachgeholfen und zum Beispiel eine neue Notenberechnungsformel in der Oberstufe eingeführt. Mündliche Noten, die immer großzügiger ausfallen als schriftliche, wurden aufgewertet. Das führte dazu, dass sich die Zahl der 1,0-Abiturzeugnisse durch das G8 verdoppelt hat. Die Schüler haben also bessere Noten, ohne besser zu sein. Das ist die Leiche im Keller.

    Im Dezember forderten Sie, dass Bayern die Abiturzeugnisse „anspruchsloser“ Bundesländer auf Dauer nicht mehr anerkennen sollte. Die Empörung war riesig. Warum sehen Sie das so?

    Kraus: Wenn jeder eine Eins hat, sind Noten nichts mehr wert. Doch in vielen Studiengängen ist der Numerus Clausus hoch, nur die mit den besten Noten kommen hinein. Das ist eine Gerechtigkeitslücke, unter der die bayerischen Schüler leiden, deren Abitur inhaltlich nach wie vor eins der anspruchsvollsten ist.

    Das Gezerre um die Zukunft des bayerischen Gymnasiums läuft seit vielen Monaten. Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) will die Schulen entscheiden lassen, ob sie das Abitur in acht oder neun Jahren anbieten. Wo wird es Ihrer Meinung nach hingehen?

    Kraus: Ich glaube, dass man sich darauf verlässt, dass sich die Schulen zu 90 Prozent für das neunstufige Gymnasium entscheiden – und irgendwann wird das dann im Schulgesetz festgehalten.

    Das Gymnasium ist die Schule der Wahl für viele Eltern. Die Übertrittsquoten von der Grundschule liegen bayernweit bei im Schnitt 40 Prozent, in einzelnen Regionen sogar bei 60. Die Mittelschule wird oft „Restschule“ genannt. Bekommen Schüler schon in der 5. Klasse einen Stempel aufgedrückt?

    Kraus: Das ist die Wahrnehmung vieler Eltern und leider auch vieler Politiker, die Begriffe wie Restschule verwenden – eine üble Etikettierung, die der Mittelschule geschadet hat. Auch die Wirtschaft hat lange den Gymnasiasten dem Realschüler und den Realschüler dem Mittelschüler vorgezogen – bis sie dann kapiert hat, dass es nichts bringt.

    Selbst die Abschaffung der Mittelschule würde den Mittelschüler an sich nicht abschaffen – den, für den eine hochindividuelle, praktische Mittelschulbildung die richtige ist.

    Sie haben in Deutschland den Begriff der Helikopter-Eltern geprägt, die ihre Kinder auf Gedeih und Verderb fördern wollen. Was sagen Sie Eltern, die ihr Kind um jeden Preis aufs Gymnasium schicken möchten?

    Kraus: Es blockiert die Entwicklung eurer Kinder, wenn sie ständig überfordert sind. Wir haben in Deutschland eine hohe Durchlässigkeit des Bildungswesens. Junge Leute, die einen Mittel- oder Realschulabschluss erreichen, eine Ausbildung machen und die Berufs- oder Fachhochschule absolvieren, haben manchen viel voraus, die den gymnasialen Bildungsweg gegangen sind.

    Sie haben sich vermehrt kritisch über den aktuellen Lehrplan der Grundschule geäußert. Warum?

    Kraus: Er ist mit unnötigen Inhalten überlastet, und zwar zulasten der zentralen Fächer Deutsch und Rechnen. Kulturtechniken werden weniger vermittelt. Der Wortschatz, den Kinder am Ende der vierten Klasse beherrschen sollen, wurde von 1100 auf 700 Wörter reduziert. Stattdessen lernen sie Englisch und schreiben – gottlob nicht in Bayern – nach Gehör.

    Welche Probleme bringt das?

    Kraus: Jede Erleichterungspädagogik geht zulasten der sozial Schwächsten. Bei Kindern aus bildungsnahen Elternhäusern kümmern sich Mutter und Vater mit um die Bildung. Eltern aus sozial schwächeren Schichten haben oft nicht den Ehrgeiz oder den Bildungshintergrund dafür. Deshalb bleiben die Kinder auf dem Niveau, das sie von zu Hause mitbringen und das die Schule dann kaum noch hebt. Dieses Absenken des Leistungsanspruchs und auch die hohe Quote an Unterrichtsausfall vergrößern die soziale Spaltung.

    Josef Kraus, 68, ist seit 1987 Präsident des größten deutschen Lehrerverbands. Er war 20 Jahre Gymnasialleiter in Vilsbiburg bei Landshut. Sein Buch „Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung“ ist ein Bestseller.

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