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Analyse: Ukrainischer Präsident ist keine Marionette der Oligarchen

Analyse

Ukrainischer Präsident ist keine Marionette der Oligarchen

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    Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, trägt mit Beamten Kerzen zu einer Gedenkstätte des Zweiten Weltkriegs. Der Politneuling ist jetzt ein Jahr im Amt.
    Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, trägt mit Beamten Kerzen zu einer Gedenkstätte des Zweiten Weltkriegs. Der Politneuling ist jetzt ein Jahr im Amt. Foto: Uncredited, dpa

    Er hat weniger gelacht in diesem Jahr. Vor allem aber hat Wolodymyr Selenskyj weniger Lacher auf seiner Seite, seit er Präsident der Ukraine ist. Der ehemalige TV-Komiker, der am heutigen Mittwoch sein erstes Amtsjubiläum feiert, kommt schon wegen des Jobwechsels viel seltener zum Scherzen als früher. Gelegentlich versucht er es allerdings noch. So ließ er nach einer Rede im Parlament den Vorsitzenden der Obersten Rada, der eine Sitzungspause vorschlug, mit den Worten auflaufen: "Pause? Ihr seid doch nicht gewählt, um Pause zu machen." Die meisten Abgeordneten johlten. Sie arbeiteten aber weiter und das sagt viel über den neuen Stil, der mit Selenskyjs sensationeller Wahl in Kiew Einzug hielt.

    Wobei Begriffe wie Sensation oder Erdrutsch die Ereignisse im Frühjahr 2019 nur unzureichend beschreiben. Da kandidierte ein gerade 41-jähriger Mann, der in einer TV-Serie mit dem Titel "Diener des Volkes" einen ins Amt gestolperten Präsidenten spielte, für das höchste Staatsamt. Am Ende schlug der Amateur den Politprofi Petro Poroschenko fast schon vernichtend. Selenskyj siegte in der Stichwahl mit 73 Prozent der Stimmen. Viele Reaktionen im In- und Ausland waren wenig schmeichelhaft. Der russische Präsident Wladimir Putin etwa, mit dessen Land sich die Ukraine seit der Krim-Annexion 2014 faktisch im Krieg befindet, ließ Begriffe wie "Politclown" streuen. Ähnliche Ausdrücke machten aber auch in Kiew die Runde, ohne Putins Zutun.

    Außenpolitischer Erfolg: Macron lobt den ukrainischen Präsidenten

    Doch nach einem extrem fordernden Amtsjahr, das im Zeichen des andauernden Donbass-Krieges, des Trump-Ukraine-Skandals und zuletzt der Corona-Krise stand, lästert kaum noch jemand über Selenskyj. Der französische Präsident Emmanuel Macron lobte den jungen Kollegen schon früh: "Gut gemacht, mehr war nicht drin." Kolportiert sind die Worte vom Ukraine-Gipfel in Paris im Dezember, bei dem sich zum ersten Mal seit drei Jahren das sogenannte Normandie-Quartett traf. Es war Selenskyjs größter außenpolitischer Erfolg. Er schaffte es, Putin vom Sinn direkter Gespräche über den Krieg zu überzeugen, im Beisein von Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel als Vermittlern. Und er versuchte zumindest, Wort zu halten. Schließlich hatte er in seiner Antrittsrede gesagt: "Unsere erste Aufgabe wird es sein, den Krieg im Donbass zu beenden."

    Zwölf Monate später kann von einem Ende des Konflikts, der inzwischen mehr als 13000 Tote gefordert hat, zwar keine Rede sein. Die "dauerhafte Waffenruhe", die in Paris vereinbart wurde, hielt nicht lange. Immerhin trug der Gipfel aber zu einer spürbaren Entspannung zwischen Russland und der Ukraine bei. Mehrfach tauschten beide Seiten im Laufe des Jahres Gefangene aus und entschärften auch den schwelenden Gaskonflikt. Mehrfach tauschten beide Seiten im Laufe des Jahres Gefangene aus und entschärften auch den schwelenden Gaskonflikt.  All das dürfte dazu beigetragen haben, dass Selenskyjs Landsleute ihrem jungen Staatschef bis heute in einem Maß vertrauen, wie es das in der knapp 30-jährigen Geschichte der unabhängigen Ukraine noch nicht gegeben hat. Eine Wahl würde Selenskyj wieder haushoch gewinnen.

    Selenskyj bleibt auch nach den Wahlen beliebt

    Das Einzigartige daran: Bislang stürzten in der Ukraine noch alle Hoffnungsträger in den Umfragen innerhalb kürzester Zeit ab, sobald sie an der Macht waren, ob sie nun Poroschenko hießen, Julia Timoschenko oder Viktor Juschtschenko. Ihrem "Diener des Volkes" jedoch nehmen die Menschen sein Engagement ab – und das, obwohl "seine Hauptziele, das Ende von Korruption und Krieg, bisher nicht erreicht sind", wie die Ukraine-Expertin Gwendolyn Sasse vom Berliner Zentrum für Osteuropa-Studien urteilt.

    Die meisten Ukrainer verstehen, dass ein Einzelkämpfer die korrupte Oligarchen-Kaste kaum entmachten kann. Selenskyj hat aber demonstriert, dass er keine Marionette ist, wie es ihm Kritiker anfangs unterstellten. Schließlich hatte er als TV-Komiker für das Medienimperium des Oligarchen Ihor Kolomojskyj gearbeitet. Doch im Konflikt um die Rückgabe einer verstaatlichten Bank an Kolomojskyj zeigte Selens-kyj, dass er Rückgrat hat: Er erteilte dem Oligarchen eine Abfuhr. Er konnte das auch deshalb tun, weil er nach seiner eigenen Wahl 2019 sofort das Parlament auflöste und kurz darauf mit seiner neu gegründeten Partei "Diener des Volkes" auch dort eine absolute Mehrheit eroberte. Es war früh in seiner Amtszeit ein machttaktisches Meisterstück.

    Ukraine-Skandal von Donald Trump: Selenskyj gerät unter Druck

    In diese Phase fiel aber auch ein anderes Ereignis, das Selenskyj bis heute anhängt: der Ukraine-Skandal von Donald Trump. In einem Telefonat verlangte der US-Präsident kaum verklausuliert von ihm, Ermittlungen gegen den Sohn seines Rivalen Joe Biden einzuleiten. Selenskyj druckste in dem Gespräch herum und schmierte Trump verbal Honig ums Maul, ohne später im "Fall Biden" tätig zu werden. Für Trump resultierte daraus ein Amtsenthebungsverfahren, das scheiterte. Selenskyj dagegen stand vor allem als potenziell erpressbarer Präsident eines zutiefst korrupten Staates da. Dafür konnte er so wenig wie für den Ausbruch der Corona-Pandemie, durch die er sein Land bislang recht souverän gesteuert hat.

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