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Visite: Umstrittener Türkei-Besuch eines Leisetreters

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Umstrittener Türkei-Besuch eines Leisetreters

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    Bei seinem Besuch in der Türkei ließ der Präsident des EU-Gerichtshofs für Menschenrechte, Róbert Spanó, die Opposition links liegen.
    Bei seinem Besuch in der Türkei ließ der Präsident des EU-Gerichtshofs für Menschenrechte, Róbert Spanó, die Opposition links liegen. Foto: Getty Images

    „Nur eine Stunde“, flehte Basak Demirtas, die Ehefrau des inhaftierten Kurdenpolitikers Selahattin Demirtas, den Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an, doch der hatte keine Zeit für sie: Richter Róbert Spanó war eine Autostunde von Demirtas’ Wohnort im Südosten der Türkei unterwegs – und ging nicht auf ihre Einladung ein. Er traf sich mit Vertretern der Regierungspartei AKP und nahm die Ehrendoktorwürde einer Universität an, die prominente Kritiker von Präsident Recep Tayyip Erdogan vor die Tür gesetzt hat. Dass hunderte Oppositionspolitiker und Journalisten in Haft sitzen und das beim Besuch des obersten EU-Menschenrechtsrichters keine Rolle spielte, können Vertreter der Zivilgesellschaft nicht verstehen. Sie fühlen sich verraten.

    Nur Russland stand in Straßburg öfter am Pranger

    Als Präsident des Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg führt der 48-jährige Isländer Spanó eine Institution, bei der die Türkei häufiger als die meisten anderen Mitglieder des Europarates wegen schwerer Vergehen angeklagt und verurteilt wird. Allein in 2019 befasste sich Spanós Gericht mit 9250 Verfahren gegen die Türkei – nur Russland stand in Straßburg noch öfter am Pranger. Theoretisch ist die Türkei an Urteile aus Straßburg gebunden, doch die regierungsnahe Justiz ignoriert die Entscheidungen der Europarichter regelmäßig, wenn es um Erdogan-Kritiker geht. Auch während Spanós Türkei-Visite forderte das Gericht wieder die sofortige Freilassung des Kunstmäzens Osman Kavala, der seit fast drei Jahren in Haft sitzt. Wie immer ignorierte Ankara den Appell.

    Spanó schwieg dazu und blieb auch sonst bei seinem einseitigen Besuchsprogramm. Er reiste mit Saadet Yüksel, der 36-jährigen türkischen Richterin am Menschenrechtsgerichtshof, ins südostanatolische Mardin, den Wahlkreis von Yüksels Bruder Cüneyt, der für die AKP im Parlament sitzt. Er ließ sich mit dem Statthalter fotografieren, den Ankara anstelle des gewählten Bürgermeisters eingesetzt hat. Mit dem gewählten Bürgermeister oder anderen Vertretern der pro-kurdischen Partei HDP, die in vielen südostanatolischen Städten die stärkste Kraft ist, traf sich Spanó nicht.

    Der Europarichter übte Kritik nur hinter verschlossenen Türen

    Gerne würde sie ihn über die Lage der HDP und ihres inhaftierten Ehemannes informieren, schrieb Basak Demirtas an Spanó gerichtet auf Twitter. Selahattin Demirtas sitzt seit Jahren in Haft – nach Ansicht von Spanós Gericht widerrechtlich. Doch der Europarichter kam weder mit Basak Demirtas noch mit Vertretern der Opposition zusammen. Dafür traf er sich mit Erdogan und Justizminister Abdulhamit Gül und nahm die Ehrendoktorwürde der Universität Istanbul an, der Alma Mater von Richterin Yüksel. Die Tradition verpflichte ihn, eine Ehrendoktorwürde aus einem Mitgliedsland des Europarates anzunehmen, sagt Spanó zur Begründung. Kritik an der Regierung, die Richter und Staatsanwälte über ein Aufsichtsgremium kontrolliert, übte er nur indirekt oder hinter verschlossenen Türen. Nach Angaben des Gerichtshofs habe Spanó in seinem Treffen mit Erdogan gefordert, die Türkei solle die Unabhängigkeit der Justiz und das Recht auf freie Meinungsäußerung beachten.

    In der Zivilgesellschaft stieß Spanós Leisetreterei auf Kritik: Der regierungskritische Wirtschaftswissenschaftler Mehmet Altan, der selbst nach einer Entscheidung von Spanós Gericht aus der Haft entlassen worden war, kritisierte den Europarichter. Spanó habe die Ehrendoktorwürde einer Universität angenommen, die ihn und andere Akademiker als mutmaßliche Erdogan-Kritiker entlassen habe, schrieb Altan in einem offenen Brief. Der türkische Menschenrechtsverein erklärte, Spanó vermittele den Eindruck, dass er Erdogans Regierung unterstütze und deren Handlungen gutheiße.

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