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Anstieg von Gewalt gegen queere Menschen: Deutschland am Rande des Kulturkampfs?

Christopher-Street-Day

Gewalt gegen queere Menschen steigt: Gerät da etwas ins Kippen?

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    In den vergangenen Jahren wurden queere Menschen öffentlich sichtbarer. Doch inzwischen steigen die Angriffe vor allem aus dem rechten Lager.
    In den vergangenen Jahren wurden queere Menschen öffentlich sichtbarer. Doch inzwischen steigen die Angriffe vor allem aus dem rechten Lager. Foto: Sven Hoppe, dpa (Symbolbild)

    Ein großes Polizeiaufgebot, Straßensperren, eine kurzfristig verschobene Parade. Emma Heinle musste in ihrem Leben schon so manchen Kampf ausfechten. Was da an diesem Juniwochenende geschehen ist, hätte sie sich gerne erstpart. Heute ist sie einfach froh, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Vergangenes Jahr habe man einfach die Veranstaltung angemeldet, alles sei entspannt gewesen, erklärt Heinle. In diesem Jahr war vieles anders. Heinle ist Vorständin des Planungsvereins für den Christopher-Street-Day in Augsburg. Die bunten Paraden schlängeln sich in diesen Wochen durch viele deutsche Innenstädte, an diesem Samstag findet in München die größte ihrer Art in Bayern statt. Es sind bunte Feste mit einer ernsten politischen Botschaft: Jeder soll so leben, wie er mag.

    Aber jetzt können wir es uns nicht leisten, so unbedarft zu sein wie in den Vorjahren, denn wir müssen die Community schützen“, sagt Heinle. Die CSD-Paraden werden zum Gefahrenbereich. In Regensburg haben die Veranstalter die Parade aufgrund einer „abstrakten Gefahrenlage“ abgekürzt, in Gelsenkirchen wurde sie ganz abgesagt, in Augsburg musste die Polizei für Sicherheit sorgen. Doch wirklich „abstrakt“ ist die Gefahr nicht: Angriffe auf queere Menschen nehmen drastisch zu, in Deutschland um mehr als 50 Prozent. Die Täter entstammen meist dem rechten Spektrum.

    Emma Heinle ist Vorstandsmitglied des CSD-Vereins Augsburg. In diesem Jahr hatte der Christopher Street Day in Augsburg das Motto: „Nie wieder still – weil Augsburg bunt sein will!“
    Emma Heinle ist Vorstandsmitglied des CSD-Vereins Augsburg. In diesem Jahr hatte der Christopher Street Day in Augsburg das Motto: „Nie wieder still – weil Augsburg bunt sein will!“ Foto: Klaus Rainer Krieger

    Die Szene jedenfalls ist alarmiert. „Es geht darum, Menschen so sein zu lassen, wie sie sind“, sagt Noa Kretschmer vom Queeren Netzwerk Bayern, einem Dachverband verschiedener Organisationen. Dabei schien der gesellschaftliche und auch der politische Wandel kaum mehr infrage zu stehen. Selbst die Wirtschaft hatte die Bewegung für sich entdeckt und druckte den Regenbogen als Zeichen der Vielfalt auf alle möglichen Produkte. Stand bis 1994 Homosexualität in Deutschland sogar noch unter Strafe, gilt seit 2017 die Ehe für alle - ein enormer Erfolg für die Betroffenen. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz können seit vergangenem November alle volljährigen Personen ihren Geschlechtseintrag beim Standesamt ändern oder ganz streichen lassen. Es gibt zwar Kritik an beiden Gesetzen, Agnes Böhmelt von der Universität Regensburg sieht die Entwicklung dennoch positiv: „Es wurden deutliche Fortschritte gemacht, aber man sollte die Kritikpunkte daran ernst nehmen.“ Also alles bunt auf dem Regenbogen? Oder ziehen dunkle Wolken auf?

    60 Prozent aller trans Personen denken über Suizid nach

    Untersuchungen zeigen: Queeren Menschen fehlt es weiterhin an gesellschaftlicher Anerkennung und Gleichberechtigung, der psychische Druck ist groß. Bei einer Befragung der Europäischen Union gaben etwa 60 Prozent aller trans Personen an, im vergangenen Jahr über Suizid nachgedacht zu haben. Deutschlandweit müssen queere Jugendtreffs – oft wichtige Anlaufstellen für die Personen – schließen, da Gelder gestrichen werden. Vor allem aber steigt die Gewalt. Zwischen 2022 und 2023 verzeichnete das Bundesinnenministerium einen Anstieg der Straftaten gegenüber queeren Menschen um über 50 Prozent.

    Insgesamt wurden Deutschland 1785 Gewalttaten gegen queere Menschen festgestellt. Der Tatbestand zählt zu den sogenannten Hassverbrechen, ebenso wie rassistische oder religiöse Taten. Die Täter sind größtenteils männlich und deutsch. Und jung: etwa ein Viertel der Taten wurde von Teenagern begangen. Die Dunkelziffer der tatsächlich begangenen Taten liegt deutlich höher. Die Polizei Berlin geht von einer Dunkelziffer von über 90 Prozent aus.

    Glossar

    War haben in dieser Übersicht eine Auswahl relevanter Begriffe rund um sexuelle und geschlechtliche Vielfalt zusammengetragen. Umfangreiche Glossare finden sich auch auf den Websites von Queeres Netzwerk Bayern, dem Queer-Lexikon und Interventionen Dissens.

    • LGBTQ+: Die Abkürzung steht für Lesbian (Lesbisch), Gay (Schwul), Bisexual (Bisexuell), Transgender, Queer und weitere Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen. Das Pluszeichen am Ende steht für alle anderen Identitäten, die nicht explizit genannt werden.
    • Queer: Queer ist ein Sammelbegriff für Personen, die sich jenseits von Kategorien wie Mann und Frau oder heterosexuell identifizieren. Das beinhaltet unter anderem Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen. Das englische Wort war früher ähnlich wie das deutsche „schwul“ ein Schimpfwort. Es stammt aus dem Englischen und bedeutet übersetzt merkwürdig oder sonderbar. Heute steht der Sammelbegriff für Stolz auf Abweichung, mit dem sowohl die ganze Bewegung als auch einzelne Menschen bezeichnet werden können. 
    • Transgender: trans Menschen fühlen sich dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt anhand ihrer äußeren Geschlechtsmerkmale zugewiesen wurde, nicht zugehörig. Bei starkem Leidensdruck können Ärzte die Geschlechtsorgane verändern.
    • Non-binär: Menschen, deren Geschlechtsidentität weder komplett weiblich noch komplett männlich ist oder die sich beiden Geschlechtern zugehörig fühlen.
    • Cis: Übereinstimmung der eigenen Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht. Beispiel: Ein Mann wird mit männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren und fühlt sich auch als Mann. 

    Als mögliche Gründe für die gestiegenen Zahlen – auch wenn sie in Berlin 2024 erstmals rückläufig waren – nennt die Pressestelle die zunehmend queer-ablehnende Haltung von Teilen der Gesellschaft sowie die in den letzten Jahren gewachsene Rolle sozialer Medien. Auch Heinle, die offen als trans Frau lebt, berichtet von regelmäßigen Anfeindungen. Im Netz und auf der Straße. Manchmal würde sie auch begrapscht oder geschubst. „Das ist eine krasse Grenzüberschreitung.“

    Sorge vor gesellschaftlichem Rückwärtsgang

    Einfache Rückschlüsse lassen sich, wie so oft im Leben, dennoch nicht ziehen. Die Zahl der CSDs ist in den vergangenen Jahren stark angewachsen, die öffentliche Sichtbarkeit von queeren Menschen ist kaum mehr mit früheren Zeiten vergleichbar. Entsprechend steigt auch die Zahl der Konflikte. Und doch gilt: „Je mehr wir queere Menschen als normal ansehen, desto stärker wird die Gegenbewegung“, sagt Kretschmer. Im Brandenburger Bad Freienwalde haben Vermummte die Besucher eines Vielfalt-Festes angegriffen. Die Angst sei auch in der Community zu spüren, sagt Emma Heinle: „Es gibt eine große Sorge davor, wieder in gesellschaftliche Nichtakzeptanz zu rücken.“

    Vor allem der gesellschaftliche Erfolg der AfD verstärkt diese Furcht. Die Rechtspartei fällt immer wieder mit aggressiver und abwertender Sprache auf. „Die queere Szene ist das absolute Feindbild der Rechten“, sagt Kretschmer. Gerade in Ostdeutschland finden viele Gegenproteste statt, aber auch in westdeutschen Städten wie Pforzheim versuchte eine Neonazi-Gruppe vor zwei Wochen, die CSD-Parade zu stören. Und die politische Mitte?

    Bundestagspräsidentin Julia Klöckner untersagte dem Regenbogennetzwerk der Bundestagsverwaltung die Teilnahme am CSD

    Anders als in den vergangenen Jahren wird das queere Regenbogennetzwerk der Bundestagsverwaltung in diesem Jahr nicht bei der CSD-Parade in Berlin vertreten sein - Bundestagspräsidentin Julia Klöckner hatte die Teilnahme untersagt. Begründet hat sie das mit der Neutralitätspflicht. SPD-Abgeordnete wiesen in einem Protestbrief darauf hin, dass es beim CSD doch um die Achtung der Menschenwürde und ein Diskriminierungsverbot gehe – beides Kernanliegen des Staates.

    Ob berechtigt oder nicht: Das Vertrauen vieler queerer Menschen in den Staat und seine Behörden ist mindestens fragil. Viele von ihnen zeigen etwa Straftaten gar nicht erst an. Bei einer Studie des Bayerischen Jugendrings gab knapp die Hälfte der Betroffenen an, dass „sich ohnehin nichts ändern würde“. Andere Gründe waren „keine Meldung wert – das passiert ständig“ sowie die Sorge, dass der Vorfall von den Behörden nicht ernst genommen würde.

    Droht Deutschland ein Kulturkampf wie in den USA?

    Wer die deutsche Debatte verfolgt, blickt unweigerlich in Richtung USA. Ist das, was hierzulande für Debatten sorgt, nur ein Vorgeschmack auf einen Kulturkampf à la Donald Trump? Mehr als zwei Dutzend US-Bundesstaaten haben Gesetze erlassen, die die Gleichstellung der Ehe einschränken würden, wenn der Oberste Gerichtshof die Legalisierung der Homo-Ehe aufhebt. Der Präsident persönlich hält Firmen an, ihre Diversitätsprogramme einzumotten. Frauenquoten und die Förderung von Minderheiten sind dem Republikaner ein Dorn im Auge. Oder in Richtung Ungarn. Da ließ Ministerpräsident Viktor Orbán die sogenannte Pride-Parade für illegal erklären. Justizminister Bence Tuzson drohte dem Budapester Bürgermeister Gergely Karacsony, der die Pride mit organisiert, gar mit einer bis zu einjährigen Haftstrafe. Selbst die EU-Kommission ist inzwischen zur Konfliktpartei geworden.

    Ein Plakat beim diesjährigen Christopher-Street-Day in Augsburg.
    Ein Plakat beim diesjährigen Christopher-Street-Day in Augsburg. Foto: Klaus Rainer Krieger

    Politische Grabenkämpfe, schmerzhafte gesellschaftliche Konfliktfelder – der Reflex, auch Deutschland eine zunehmend gespaltene Gesellschaft zu diagnostizieren, ist angesichts dieser Gemengelage verlockend. Doch Thomas Petersen warnt vor schnellen Urteilen. Der 56-Jährige ist Meinungsforscher am renommierten Institut für Demoskopie in Allensbach. Seit Jahrzehnten klopfen die Männer und Frauen von Bodensee die Stimmungslage der Republik ab. Und ihre Daten widersprechen der scheinbar zunehmenden Polarisierung. Aufgeregte Debatten, die an den politischen Rändern geführt würden, dürften, so Petersen, nicht automatisch auf die Mitte der Gesellschaft übertragen werden. Die Errungenschaften, die in den vergangenen Jahrzehnten erzielt wurden, hätten im Gegenteil sogar großen Rückhalt. „Es gibt die verbreitete Vorstellung, dass viele Menschen gegen etwas sind, also etwa gegen die Homo-Ehe – aber dafür gibt es keine Anzeichen“, sagt Petersen. „Mein Eindruck ist, dass Menschen aus politischen Gründen der Gesellschaft eine Intoleranz unterstellen, die es so gar nicht gibt – jedenfalls nicht als Massenphänomen.“ 

    Laut Meinungsforscher Petersen ist die Gesellschaft weniger gespalten, als die öffentliche Diskussion es vermuten lässt

    Deutschland sei in seinen Wertevorstellungen deutlich weniger gespalten, als die öffentliche Diskussion es vermuten lasse. Noch nicht einmal zwischen den Generationen verlaufe ein tiefer Graben. Das, so Petersen, sei früher anders gewesen. Noch bis in die 90er Jahre habe es eine Kluft zwischen Jung und Alt gegeben. Konflikte, die Jahrzehnte überdauert hätten: Welche Werte vertrete ich? Wie erziehe ich meine Kinder? Welche Welt gilt als erstrebenswert? „Das ist eine Spätfolge der Diktatur“, sagt Petersen. „Wenn Menschen längere Zeit in einer Diktatur leben, entwickeln sie ein anderes Weltbild.“ Das führe zu Konflikten mit der ersten Generation der Nachgeborenen. Doch das sei inzwischen überwunden. Es gebe zwar durchaus noch Reibungspunkte, doch große kulturelle Konflikte würden sich zumindest in der westdeutschen Gesellschaft kaum noch finden.

    „Ich glaube, man kann gesellschaftliche Veränderungen, die einmal erzielt worden sind, nur schwer wieder zurückdrehen“, sagt Petersen. „Auch wenn Populisten jeder Art versuchen, das den Menschen einzureden. Radikalismus hat fast immer eine reaktionäre Komponente.“ Die Sehnsucht nach den vermeintlich „guten alten Zeiten“ habe eben besonders in Umbruchphasen etwas Verlockendes.

    Doch egal, wie laut und aggressiv es von den Rändern tönt, die Augsburgerin Emma Heinle möchte sich nicht mehr verstecken. „Ich kann und will das nicht mehr“, sagt sie. Auch deswegen werde sie gemeinsam mit dem Team weiter Paraden veranstalten. „Wir machen das, damit wir sichtbar sein können, ohne Angst zu haben.“

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    4 Kommentare
    Marianne Böhm

    Ich glaube erst mal nicht dass 50% der Angriffe auf queere Menschen dem rechten Spektrum angehören.. In unserer Land kommen ja aus der ganzen Welt Menschen die sich der LGBTQ Community zugehörig fühlen, weil sie sich in ihren Länder so nicht zeigen dürfen.. Wir haben Demokratie, Freiheit die alle Menschen schützt.. und die sich in jegliche Richtung ausleben können... aber es schützt nicht diejenigen der jemanden mit 47 Identitäten, davon 46 nicht versteht.. Homosexualität ist für jeden ein Begriff und auch Normalität.. nur sich mit Hundemaske wie ein Hund durch den Park führen zu lassen ist nicht normal.. Im Mittelalter setzten Menschen , Tier und Göttermasken auf um wie diese zu werden.. verkleidet haben sich Menschen schon immer.. Inzwischen im 21. Jahrhundert sollten wir eine andere Stufe von Wissen erreicht haben, sie sollte uns vor unserem Sein und nicht Sein schützen.. ! Es ist wie ein Karneval der Absurditäten.. woraus auch unser heutiger Karneval entstanden ist.

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    Regine Bayer

    Irgendwie verstehe ich mindestens die Hälfte dessen nicht, was Sie da schreiben, Frau Böhm. Vielleicht sollten Sie noch einmal mit ganz schlichten Sätzen und Worten versuchen.

    Matthias Kitirk

    Eine völlige Verdrehung aller Tatsachen. Angriffe auf Queer kommen in aller erster Linie aus der islamistischen ecke. Problem bei der Erfassung von Straftaten, welches auch bei Markus Lanz thematisiert wird: wenn ein islamist einen juden angreift, gilt das als rechte Straftat. Wenn eine Tat nicht aufgeklart wird, wird sie automatisch dem rechten Milieu zugesprochen. Ein Hakenkreuz Graffiti wird als rechte Straftat gewertet. Ein Hammer-und-Sichel Graffiti jedoch nicht als linke Straftat. Die Straftat mag „rechts“ politisch sein, die Täter sind aber keinesfalls die „Rechten“, die man hier suggerieren möchte. Immer wieder beeindruckend wie man sich hier kollektiv selbst hinter Licht führt.

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    Regine Bayer

    Es ist völlig egal, aus welcher Ecke das kommt. Wichtig ist, dass man Menschen beschützt. Und das geschieht nicht, wenn man die Schuld von der einen auf die andere queer-feindliche Seite zu schieben versucht.

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