Ukraine geht stark geschwächt ins Frühjahr
Kiews Verbündete versuchen, Geld und Munition einzusammeln, um das Land im Kampf gegen Russland zu stärken. Auch die EU wagt einen Vorstoß.
Der Ukraine geht die Munition für die Verteidigung aus - auch, weil es an Geld fehlt. Doch nun könnte das vom Krieg geplagte Land zumindest die Chance erhalten, sich mit zusätzlichen finanziellen Mitteln selbst um die Beschaffung zu kümmern: Die Zinsgewinne von im Ausland eingefrorenem russischem Vermögen sollen nach Plänen der EU schon bald abgeschöpft und Kiew zur Verfügung gestellt werden. Nach Angabe des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell geht es um einen Betrag von mindestens drei Milliarden Euro pro Jahr. 90 Prozent der Gelder könnten in Militärhilfen fließen, zehn Prozent in die ukrainische Verteidigungsindustrie. Für Präsident Wolodymyr Selenskyj wäre das ein wichtiges Zeichen, auch wenn der Betrag im Vergleich überschaubar ist. Zum Vergleich: Der finanzielle Bedarf der Ukraine liegt bei rund 100 Milliarden pro Jahr.
Experten erwarten deshalb, dass sich die Lage an der Front weiter verschärfen wird. Eine Offensive, wie sie im vergangenen Jahr für Fortschritte sorgte, ist nicht in Sicht. „Das Blatt hat sich gewendet, Russland ist dabei, seine Kräfte zu konsolidieren, und die Ukraine kann derzeit keine Offensiv-Aktionen ins Auge fassen“, sagt Joachim Krause vom Institut für Sicherheitspolitik in Kiel. Solange das Land nicht mit mehr Waffen versorgt werde, sei Putins Armee im Vorteil. Vor allem die noch immer fehlende US-Hilfe falle schwer ins Gewicht.
Norbert Röttgen: "Russland hat eine mindestens fünffache Munitionsüberlegenheit"
Auch der Außenpolitik-Experte Norbert Röttgen (CDU) warnt: „Russland hat eine mindestens fünffache Munitionsüberlegenheit, die Ukraine hat nach wie vor praktisch keine modernen Kampfflugzeuge und viel zu wenig Langstreckensysteme.“ Doch nicht nur in der Materialschlacht zieht die Ukraine den Kürzeren, auch personell hat die Armee massive Schwierigkeiten. Der Ukraine drohten, so Röttgen, nach der Munition auch die Soldaten auszugehen. „Die militärische Lage ist also äußerst kritisch für die Ukraine, eine Änderung in den nächsten Monaten nicht abzusehen“, sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete unserer Redaktion. Und doch warnt er vor voreiligen Schlüssen. „Zu nachhaltigen großflächigen Landgewinnen dürfte auch Russland in diesem Jahr die Kraft fehlen“, sagt er. „Die russische Armee ist halbiert, kleinere Landgewinne werden weiterhin mit sehr hohen Verlusten bezahlt.“
Wladimir Putins Truppen bestehen, so Krause, weitgehend aus Reservisten, die schlecht ausgebildet seien, es gebe große Defizite, was die Koordination von Land- und Luftstreitkräften zur Durchführung größerer Operationen betreffe. „Derzeit verliert Russland bis zu 1000 Soldaten pro Tag durch Tod oder Verwundung. In diesem Jahr ist voraussichtlich nicht mit einer größeren Offensiv-Aktion zu rechnen“, sagt er. „Nächstes Jahr dürfte sich das ändern.“
Hälfte der Leopard-1-Panzer sind bis heute nicht an die Ukraine geliefert
Weltweit versucht eine Gruppe, angeführt von der tschechischen Regierung, aktuell verfügbare Munition für die Ukraine zu sammeln. Deutschland will kurzfristig 10.000 Artilleriegeschosse aus den Beständen der Bundeswehr liefern, des Weiteren gepanzerte Fahrzeuge und Transportflugzeuge. Zu wenig, wie Norbert Röttgen findet. „Zusagen hat es inzwischen sehr viele gegeben, vieles ist bis auf den heutigen Tag nicht geliefert, wie etwa die Hälfte der zugesagten Kampfpanzer Leopard 1“, sagt er. „Die Ukraine braucht mehr als Hoffnungsschimmer, sie braucht ausreichend und nachhaltig Munition und Waffen, um dem russischen Vernichtungskrieg standzuhalten und ihn zum Scheitern zu bringen.“ Deutschland und die europäischen Staaten müssten endlich ihre industriellen Rüstungskapazitäten ausschöpfen und deutlich ausweiten.
„Wir werden uns für absehbare Zeit darauf einstellen müssen, dass wir Europäer die Hauptlast der Unterstützung der Ukraine leisten müssen“, prognostiziert der Sicherheitsexperte Joachim Krause. Das erfordere unkonventionelle Beschaffungskonzepte und die Umstellung der Rüstungswirtschaft auf das, was als „Kriegswirtschaft“ bezeichnet werde. „Wir haben keine andere Wahl“, sagt er.
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Knackpunkt ist doch, dass die USA ihre Hilfen durch den Budgetstreit nahezu eingestellt haben, und eine Einigung im Kongress nur eine vage Hoffnung ist. Und entgegen allen Verlautbarungen und Signalen wird Europa nicht in der Lage sein fehlende Material- und Finanzhilfen aus den USA auch nur annähernd zu ersetzen- langfristig schon Mal überhaupt nicht. Auch ist die Frage, ob die Bevölkerung in den EU Staaten langfristig bereit ist, steigende finanzielle und wirtschaftliche Opfer für die UA zu erbringen. Und das Vertrösten auf das jeweils nächste Jahr zeigt doch nur die Verzweiflung der Agierenden.
Deutschlandfunk meldet am 29.11.2023: "Selenskyj unterzeichnet Staatshaushalt für 2024... Der Schutz gegen die russischen Invasoren habe Priorität, sagte Selenskyj am Abend in seiner täglichen Videoansprache. Deshalb machten die Rüstungsausgaben die Hälfte des Etats von umgerechnet mehr als 40 Milliarden Euro aus..." Interessante Aussage im Artikel: "Kiews Verbündete versuchen, Geld und Munition einzusammeln,..." Das könnte wohl heissen, die ukrainische Regierung musste erkennen, dass die Rüstungsausgaben 2024 höher sind als budgetiert wurden, das hat zur Folge: "Ukraine geht stark geschwächt ins Frühjahr", weil die Kasse leer ist. Wie es scheint, braucht die Ukraine nicht nur Waffen und Geld, sondern auch Staatshaushaltsexperten, die mit realistischen Zahlen arbeiten können.
Gunther Kropp, Basel