Frau Kravtšenko, Sie waren gerade in der Ukraine. Wie groß wird dort die Gefahr eingeschätzt, dass Russland von Belarus aus erneut in Richtung Kiew marschieren könnte?
Anna Kravtšenko: Der Chef der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, hat jüngst gesagt, dass er glaubt, dass die Russen einen weiteren Versuch unternehmen werden, Kiew über Belarus anzugreifen. Der belarussische Machthaber Lukaschenko hatte dies ja bereits im Februar erlaubt. Tatsächlich gibt es belarussische, aber auch ukrainische Quellen, die von verstärkten Truppenbewegungen auf der belarussischen Seite der Grenze berichten. Allerdings offensichtlich nicht in einem Maße, das für eine neue Offensive ausreichen würde.
Könnten diesmal auch belarussische Truppen dabei sein?
Kravtšenko: Lukaschenkos Truppen sind bisher nicht Teil des Konfliktes. Die meisten Experten rechnen nicht damit, dass sich das ändert. Zumal die belarussische Armee klein ist und ihre militärische Schlagkraft überschaubar sein dürfte.
Glauben Sie nicht, dass Lukaschenko dem Drängen des russischen Präsidenten Wladimir Putin nachgibt, sich direkt militärisch zu engagieren?
Kravtšenko: Wir wissen ja gar nicht, ob Putin tatsächlich darauf drängt. Das ist erst einmal nur eine Annahme. Eine militärische Zusammenarbeit gibt es ja schon längst. Putin war bei seinem Besuch in Minsk am Montag in Begleitung von Außenminister Lawrow und Verteidigungsminister Schoigu. In der ukrainischen Presse ist die Sorge vor einer neuen Offensive in Richtung Kiew mit Blick auf diese hochkarätige Delegation gewachsen, während ich aus belarussischen Quellen entnehme, dass dieser Besuch eher als reine Symbolpolitik bewertet wird.
Haben Sie Erkenntnisse darüber, wie die belarussische Bevölkerung zum russischen Krieg steht?
Kravtšenko: Eine aktive Teilnahme an dem Krieg ist in Belarus sehr unpopulär. Dies legen auch Umfragen nahe, die die britische Denkfabrik Chatham House alle drei Monate unter belarussischen Internet-Nutzern erhebt. Danach sind nur vier bis fünf Prozent für eine Beteiligung an den Kämpfen. Das bedeutet nicht automatisch, dass eine sehr große Mehrheit gegen Russland oder den Krieg eingestellt ist. Umfragen von außen in einer Diktatur sind – das räumt Chatham House selbst ein – natürlich mit Vorsicht zu genießen, aber sie dürften zumindest die Stimmung in Belarus widerspiegeln.
Ist Lukaschenkos „Schaukelpolitik“ mit Avancen nach Westen als Gegengewicht zur Abhängigkeit von Russland seit Kriegsbeginn endgültig die Grundlage entzogen?
Kravtšenko: Das mag im Augenblick so scheinen. Allerdings gibt es auch Anzeichen dafür, dass Lukaschenko die Tür zum Westen nicht endgültig zuschlagen will. Für den plötzlich gestorbenen Außenminister Wladimir Makej wurde Sergej Alejnik als Nachfolger berufen. Alejnik hat als Makejs Stellvertreter lange an dessen Seite gearbeitet und gilt nicht als Hardliner. Ein Politiker, der die noch vorhandenen Kanäle zum Westen nutzen könnte.
Was wissen Sie über Berichte, wonach es in Belarus Anschläge und Sabotage-Aktionen gegen russische Militärstützpunkte gibt?
Kravtšenko: Zu Beginn des Krieges gab es solche Aktionen. In letzter Zeit habe ich allerdings kaum etwas von Anschlägen oder Sabotage gegen russische Stützpunkte oder militärisch nutzbare Infrastruktur gehört. Man darf nicht vergessen, dass jedem, der solche Taten begeht, die Todesstrafe droht.
Schickt das Regime weiterhin Migranten an die Grenze, um Nachbarstaaten zu destabilisieren?
Kravtšenko: Mir liegen Berichte aus Polen vor, dass noch immer Migranten an die Grenze gebracht werden. Das müsste staatlich gesteuert sein, ohne Anordnung von Machthaber Lukaschenko wäre das nicht denkbar.
Wie ist die wirtschaftliche Lage in Belarus?
Kravtšenko:: Experten trauen den offiziellen Statistiken längst nicht mehr. Sicher ist aber, dass Belarus in einer Rezession steckt. Die Rede ist von einem Rückgang der Wirtschaftskraft um vier Prozent in diesem Jahr, auch 2023 wird es kein Wachstum geben. Die Inflation liegt bei 17 Prozent. Lukaschenko versucht, die schlechte Stimmung in der Bevölkerung mit Populismus aufzuhellen. Er hat angekündigt, die Preise für Lebensmittel und manche Dienstleistungen einzufrieren. Umgesetzt wurde dies aber nur zum Teil.
Was ist mit der einst starken IT-Branche im Land?
Kravtšenko: Generell ist seit den Massendemonstrationen im Jahr 2020 gegen Lukaschenko eine massive Abwanderung von ausländischen Unternehmen zu beobachten. Das trifft insbesondere die IT-Branche. Fast alle größeren Firmen aus diesem Sektor haben Belarus verlassen, viele arbeiten jetzt in Georgien und Armenien. Der Verlust von hoch qualifizierten Kräften ist extrem hoch.
Hat die Opposition im Land überhaupt noch die Möglichkeit, sich zu Wort zu melden?
Kravtšenko:: Aktive Oppositionelle sind ins Ausland geflohen oder sitzen im Knast – sie werden oft zu sehr langen Freiheitsstrafen verurteilt. Der Widerstand im Land ist erstickt, es ist viel zu gefährlich, aufzubegehren. Regime-Gegner riskieren die Todesstrafe. Die belarussische Menschenrechtsgruppe Viasna führt eine sehr genaue Statistik, die ständig aktualisiert wird: Danach gibt es derzeit 1435 politische Gefangene. Oppositionelle, deren Familien in Belarus leben, werden zum Teil ins Land gelockt und dann verhaftet. Eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht. Es wird eher noch schlimmer.
Gegner des Regimes arbeiten vom Ausland aus. Viele haben im Baltikum Zuflucht gefunden. Wie groß ist der Einfluss dieser Gruppen?
Kravtšenko: Der einzige Weg, vom Ausland aus Regimekritik und freie Informationen nach Belarus zu transportieren, geht über digitale Medien, die – insbesondere in den Städten – sehr stark genutzt werden. Dennoch ist es für Dissidenten im Ausland sehr schwer, in Belarus Multiplikatoren zu finden, die ihre Kritik weitertragen. Die Gruppen im Ausland sind aber äußerst wichtig, weil sie dazu beitragen, dass die Lage in Belarus trotz Ukraine-Krieg und anderer Krisen international auf der Tagesordnung bleibt.
Welche Rolle spielt die Ikone des Widerstandes, Swetlana Tichanowskaja, die aus dem Exil von Litauen aus agiert?
Kravtšenko: Tichanowskaja spielt eine wichtige Rolle. Sie steht in engem Kontakt mit europäischen Entscheidungsträgern und sorgt dafür, dass das Schicksal der Belarussinnen und Belarussen nicht vergessen wird. Ihre Stärke ist ihre Legitimation: Als sie stellvertretend für ihren verhafteten Mann 2020 bei den Präsidentschaftswahlen antreten wollte, zeigten Umfragen, dass sie sehr gute Chancen hatte, die Wahlen auch zu gewinnen. Doch sie wurde gezwungen, das Land zu verlassen. Jetzt ist es Tichanowskaja, die die Oppositionsgruppen im Ausland trotz einiger Meinungsverschiedenheiten zusammenhält. Ohne sie wäre das viel schwieriger.
Anna Kravtšenko, 34, ist Projektleiterin Ukraine und Belarus der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit Sitz in Kyjiw (zurzeit temporär versetzt nach Tiflis, Georgien). Zuvor war sie Referentin für Entwicklungspolitik und Menschenrechte bei der FDP-Bundestagsfraktion sowie für die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Deutschland, Kirgisistan und in der Republik Moldau tätig. Frau Kravtšenko ist Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Osteuropa und stammt gebürtig aus Estland.