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Interview: Islamismus-Experte: "Erdoğan-Wähler sind Beispiele für gescheiterte Integration"

Interview

Islamismus-Experte: "Erdoğan-Wähler sind Beispiele für gescheiterte Integration"

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    Islamismus-Experte Ahmad Mansour attestiert der Bundesregierung Scheinheiligkeit im Umgang mit dem politischen Islam.
    Islamismus-Experte Ahmad Mansour attestiert der Bundesregierung Scheinheiligkeit im Umgang mit dem politischen Islam. Foto: Jörg Carstensen, dpa

    Herr Mansour, wie erklären Sie sich die Unterstützung, die Recep Tayyip Erdoğan bei der Präsidentschaftswahl von zahlreichen Deutschtürken erfahren hat?
    AHMAD MANSOUR: Zunächst einmal: Es sind fast vier Millionen Türken in diesem Land und die Mehrheit davon hat nicht so gewählt. Die meisten unter ihnen sind in Deutschland angekommen. Das sind säkulare, liberale Menschen, das sind Demokraten. Trotzdem, wenn man sich die Zahl derjenigen anschaut, die die türkische Staatsbürgerschaft oder die Doppelstaatsbürgerschaft besitzen und wählen gegangen sind, hat eine deutliche Mehrheit Erdoğan gewählt. Das muss uns unbedingt dazu bringen, über Integration und die Politik in Bezug auf den Islam in Deutschland nachzudenken.

    Das bedeutet was genau?
    MANSOUR: Man hat vor einigen Jahren Erdoğan nicht nur erlaubt, Wahlkampf in Deutschland zu betreiben, sondern eine religiöse Struktur aufzubauen, die mittlerweile viel Einfluss auf Menschen türkischer Herkunft ausübt. Und ich frage mich, warum Deutschland sowas überhaupt ermöglicht: DITIB-Moscheen, die man betreibt, um politische Einflussnahme auf die Menschen zu haben. Letztendlich müssen wir eingestehen, dass die Mehrheit der Erdoğan-Wähler Beispiele für gescheiterte Integration sind. Die sind in unserer Gesellschaft nicht angekommen.

    Ist die Wiederwahl Erdoğans mit Unterstützung zahlreicher Türken in Deutschland ein Symbol für den politischen Islam in Deutschland?
    MANSOUR: Die meisten Menschen, die Erdoğan gewählt haben, sind keine Mitglieder der Muslimbruderschaft oder der AKP. Aber sie unterstützen deren Ziele. Und wenn man sieht, welche Reaktion so mancher Akteur des politischen Islam auf die Wahl gezeigt hat, dann ist zu erkennen, dass es nicht nur um Erdoğan geht, sondern darum, dass sich politische Islamisten gegenseitig unterstützen. Erdoğan ist Teil einer Ideologie. Und seine Unterstützer in Deutschland sind Teil dieses ideologischen Netzwerks.

    Wie verankert ist dieses Netzwerk in Deutschland?
    MANSOUR: Es ist sehr schwierig, das zu erfassen. Bei den Muslimbrüdern hierzulande geht es mittlerweile viel mehr um Ideologie als um eine gewachsene Struktur. Es gibt keine Büros der Muslimbrüder in Deutschland. Viele Akteure würden den Begriff auch nicht nutzen. Wenn man aber deren Vernetzungen und Ideologie anschaut, sieht man, dass viele aus dieser Ecke kommen. Wenn ich mir die Entwicklung der Ideologie in den letzten drei Jahren in Deutschland anschaue, bin ich überrascht und traurig, wie viele Menschen Lobbyarbeit dafür machen, in der Wissenschaft, in den Medien und sogar in Teilen der demokratischen Parteien. Selbst Erkenntnisse des Verfassungsschutzes werden ignoriert.

    Wie real ist die Gefahr einer islamistischen Unterwanderung Deutschlands?
    MANSOUR: Unterwanderung bedeutet nicht, dass wir in zehn Jahren ein Kalifat in Deutschland haben. Ich meine damit, dass der Einfluss von Jahr zu Jahr größer wird. Am Anfang werden die liberalen Muslime davon betroffen sein. Die Akteure des politischen Islam nutzen aktuell, dass der öffentliche Fokus auf anderen Fragen liegt. Wir sehen es in den letzten Monaten, beispielsweise daran, wie DITIB-Moscheen genehmigt werden; zuletzt in Wuppertal, ohne dass Politiker eine Ahnung haben, was die Imame dort predigen.

    Warum sind gerade die vermeintlich linken Kreise, die sich die Emanzipation der Frauen und den Schutz sexueller Minderheiten auf die Fahnen geschrieben haben, derart anfällig für die Verharmlosung des politischen Islam?
    MANSOUR: Weil sie wie alle Ideologien Dualismus betreiben, und in diesem Dualismus gibt es Gut und Böse. Böse sind Rechte und gut sind Minderheiten. Und die Muslime sind die Minderheit, deshalb muss man sie unterstützen. Wenn ich daran Kritik äußere, bin ich der böse Rechte. Das ist eine kindliche Vorstellung von Politik. Die Zusammenarbeit zwischen Linken und Islamisten macht mich fassungslos und meine Arbeit unfassbar schwer.

    Wie bewerten Sie den Umgang der Bundesregierung mit dem politischen Islam?
    MANSOUR: Leider muss ich zwei Sachen feststellen. Eine Bekämpfung der Akteure des politischen Islam von dieser und der vorherigen Bundesregierung findet kaum statt. Vielmehr werden diese Menschen hofiert. Ich erinnere an Horst Seehofer, den es bei der Islamkonferenz nicht interessierte, welche Akteure im Zentralrat der Muslime tätig sind. Auch bei Nancy Faeser musste ich feststellen, dass liberale Muslime überhaupt keine Rolle spielen. Man hat uns in allen Diskussionen komplett ignoriert und nur hingesetzt, um zu zeigen, dass auch liberale Muslime eingeladen sind. Obwohl im Koalitionsvertrag steht, dass man die liberalen Stimmen in der muslimischen Community fördern will.

    Sie sind als Muslim in Israel geboren und haben vor einigen Jahren geschrieben, dass Sie als junger Mensch ebenfalls Islamist waren. Sie konnten sich von dieser Ideologie befreien, kamen nach Deutschland, haben Psychologie studiert und beschäftigen sich heute mit Extremismusprävention. Wie ist Ihnen die Loslösung vom Islamismus gelungen?
    MANSOUR: Ich weiß nicht, woher ich die Kraft hatte, aber ich habe angefangen, zu hinterfragen. Ich würde heute sagen, das ist etwas, was meine Familie mir erlaubt hat. Mein Vater ist kein liberaler Mensch, ist sehr patriarchalisch, sehr streng. Trotzdem hat mir meine Familie erlaubt, einmal radikal zu werden und auch, mich davon zu befreien, obwohl sie dagegen waren. Meine Eltern waren nicht dafür, dass ich diese Moschee besuche, dass ich mich den Muslimbrüdern anschließe. Sie waren auch nicht glücklich, als ich angefangen habe, westlich leben zu wollen, und mich von der islamistischen Ideologie zu lösen begann. Das heißt, ich habe in meiner Familienstruktur diese Freiheit bekommen, Sachen auszuprobieren, ohne großartige Ängste zu entwickeln. Aber der entscheidende Grund, warum ich mich vom Islamismus lösen konnte, war mein Studium in Tel Aviv, waren die Leute, die ich getroffen habe, die mich zum Zweifeln gebracht haben, Menschen, die Interesse an meiner Biografie hatten, Professoren, die mir kritisches Denken beigebracht haben.

    Seit vielen Jahren beklagen Sie die Verharmlosung des linken sowie des muslimischen Antisemitismus in Deutschland. Gleichzeitig waren 2021 84 Prozent der antisemitischen Straftaten auf Menschen aus dem rechtsextremen Milieu zurückzuführen. Zeichnen Sie somit nicht ein Zerrbild, wenn Sie den muslimischen Antisemitismus hervorkehren?
    MANSOUR: Ich habe noch nie in meinem Leben gesagt, dass der muslimische Antisemitismus der einzige ist, den wir in Deutschland haben. Ich sage immer, dass Antisemitismus herkunftsübergreifend ist. Dass man Antisemitismus im rechten, im linken Spektrum, in der Mitte der Gesellschaft, aber auch unter Muslimen finden kann. Wir müssen über jede Form des Antisemitismus reden, weil sich die Entstehungsgründe und die Aggressivität unterscheiden. In den letzten Jahren merke ich aber eine massive Zusammenarbeit zwischen linken und muslimischen Antisemiten. Die unterstützen sich auf der Straße, teilen Narrative, bauen Organisationen auf. Ich halte nichts von der Statistik, die sagt uns nichts.

    Auf der "Revolutionären 1. Mai-Demonstration" brüllten Teilnehmer antisemitische Parolen durch Berlins Straßen.
    Auf der "Revolutionären 1. Mai-Demonstration" brüllten Teilnehmer antisemitische Parolen durch Berlins Straßen. Foto: Lukas Dubro, dpa

    Welche Situation müsste hierzulande eintreten, dass Ihre eigene Arbeit überflüssig werden würde?
    MANSOUR: Das ist mein Traum. Ein großer Schritt könnte gemacht werden, wenn wir Schule anders denken würden. Wenn wir Lehrerinnen und Lehrer anders ausbilden würden. Ich weiß, das ist weit weg von der Realität. Trotzdem sehe ich die Schule als Ort der Integration, der Sozialisation. Wir müssten stärker gegen Antisemitismus arbeiten, kritisches Denken fördern, Menschen unterschiedlicher Herkunft die gleichen Chancen ermöglichen. Aber auch die Schule als Ort der Begegnung begreifen. Dann müsste keiner von außerhalb kommen und die Arbeit erledigen.

    Sie stellen Ihrem Buch einen Dank an die Personenschützer des Landeskriminalamts Berlin voran, die Sie seit vielen Jahren überallhin begleiten. Die massiven Einschränkungen Ihres Privatlebens, die ständige Angst vor Angriffen, aber auch die verbalen Anfeindungen. War es das wert?
    MANSOUR: Das ist eine Frage, die mich täglich beschäftigt. Ich weiß es nicht. Ich hatte mir mein Leben in Deutschland anders erträumt. In meinen Träumen waren keine Personenschützer dabei. Ich wollte eine Familie gründen, ich wollte ein Teil der Gesellschaft sein, aber ich wollte nicht vor Islamisten geschützt werden. Auf der anderen Seite bin ich dankbar, dass ich mitgestalten darf, meine Bücher gelesen werden, ich zu Gesprächsrunden eingeladen werde. Das ist nicht selbstverständlich in einer Migrationsgeschichte.

    Zur Person

    Ahmad Mansour ist deutsch-israelischer Psychologe und Autor. Der 46-Jährige engagiert sich seit vielen Jahren gegen Antisemitismus. Zudem gründete Mansour 2018 eine Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention, die verschiedene Projekte im Bildungs- und Integrationsbereich durchführt. Sein neuestes Buch lautet "Operation Allah. Wie der politische Islam unsere Demokratie unterwandern will". Für seine Arbeit erhielt Mansour im vergangenen Jahr das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Mansour lebt mit seiner Familie in Berlin.

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