Die neue deutsche Außenpolitik: Warum früher nicht alles schlecht war

07.03.2022

Putin hat unserer Gesellschaft einen harten Aufprall auf dem Boden der Realität beschert. Doch wir dürfen nicht von einem Extrem ins andere verfallen.

Es war eine der großen deutschen Wochenzeitungen, die in den vergangenen Tagen einen ganz erstaunlichen Satz auf Twitter gepostet hat: „Während Putin in den letzten Jahren aufrüstete, kümmerten wir uns in Deutschland um den Ausbau von Kindertagesstätten und um mehr Tierwohl in der Nutztierhaltung. Waren wir naiv?“ In einem anderen Blatt sagt einer der renommiertesten deutschen Historiker, es sei wichtiger, eine funktionierende Armee zu haben als eine „hauptamtliche Diversitätsbeauftragte“.

Es sind Aussagen, die auf eine so große Zustimmung treffen, wie sie noch vor drei Wochen nahezu unvorstellbar gewesen wäre. So weit der Krieg in der Ukraine von uns weg sein mag, so sehr hat er dieses Land, diese Gesellschaft bis ins Mark getroffen. Der Begriff der „Zeitenwende“ mag inzwischen überstrapaziert sein, aber schon jetzt, Anfang März, dürfte er in der Rangliste für das „Wort des Jahres“ einen uneinholbaren Spitzenplatz einnehmen. Und doch wäre es ein Fehler, die gesamte bisherige Sicherheitspolitik als einzige Anhäufung von Fehlern und Unbedarftheit abzustempeln.

Deutschland hat aus gutem Grund einen anderen Blick auf das Militärische

Ja, es ist richtig, dass Deutschland endlich lernt, nicht jedes zwischenstaatliche Problem mit der hohen Kunst der Diplomatie lösen zu können. Ja, es ist richtig, dass das stärkste Land in der EU eine funktionierende Armee braucht, dass es verteidigungsfähig sein muss. Und doch gab es eben gute Gründe, warum wir Deutsche anders waren. Warum wir nicht die Lässigkeit der Briten haben, wenn es um Witze über den Krieg geht. Warum wir nicht das Pathos wie die Franzosen haben, wenn wir Militärfahrzeuge sehen. In beiden Ländern steht das Militär für die eigene Kraft – in Deutschland stand das Militär hingegen nach dem Zweiten Weltkrieg für unsere tiefsten Abgründe.

Der dunkle Schatten des Nationalsozialismus war so prägend, dass die Gesellschaft erst wieder lernen musste, ein gesundes Maß zu finden zwischen dem unbedingten Wunsch nach friedlichen Mitteln und der Einsicht in die Notwendigkeit, die eigenen Werte auch verteidigen zu müssen. Diesen Weg heute nur als naiv abzustempeln, wäre ein Verrat an der eigenen Überzeugung. Sowohl die Politik als auch die Gesellschaft haben die Zeit gebraucht, um dies zu schaffen. Nun heißt es, aus der Geschichte auch wieder andere Lehren zu ziehen. Die etwa, dass Appeasement-Politik, also eine Politik der Beschwichtigung, nicht mehr dazu geeignet ist, Autokraten mit ihren imperialistischen Allmachtsfantasien in Schach zu halten.

Putin hat Angst vor der Demokratie

Das eine zu tun, bedeutet nicht, dass wir das andere lassen müssen: Es wird die Aufgabe der kommenden Monate, vielleicht sogar Jahre sein, hierüber einen Konsens herzustellen, der nicht getrieben ist von der Aufgeregtheit eines verbrecherischen Krieges. Wir müssen für unsere Werte einstehen, ohne sie in einer Art Panikmodus zu verraten.

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Putin hat nicht einfach nur Angst vor der Nato als militärischer Macht. Er hat Angst vor dem, wofür der Westen steht: vor der Demokratie, vor Menschenrechten, vor einer liberalen Gesellschaft. All das aufzugeben aus Furcht vor dem Wahnsinnigen aus dem Kreml – es wäre wie Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Es wird auch in Zukunft von großer Bedeutung sein, Veränderungen zu gestalten, auf die Anforderungen des Alltags nicht nur zu reagieren, sondern sie aktiv anzugehen.

Dass Deutschland sich um Kindertagesstätten, um Nutztierhaltung, um Diversität kümmert, ist kein Ausweis von Naivität – es ist eine große Errungenschaft, ein Ausweis unseres Wohlstandes und unserer entemotionalisierten Politik. Nicht wenige Länder dieser Welt haben uns gerade darum beneidet.

Alle Informationen zur Eskalation erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Krieg in der Ukraine.

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