Es ist eines der größten Probleme für die israelische Armee in ihrem Kampf gegen die Hamas: das Tunnelsystem der Terroristen, dem Experten den harmlosen Spitznamen "Metro" gegeben haben. Bis zu 500 Kilometer Gesamtlänge soll es haben, das gesamte Territorium der Küstenenklave umspannen und den Terroristen zu mehreren Zwecken dienen: Sie können sich darin geschützt vor israelischen Angriffen bewegen und israelische Truppen überraschen, indem sie aus einem verborgenen Schacht auftauchen; sie können sich dort verstecken, Waffen lagern und womöglich auch israelische Geiseln gefangen halten. Die militärische Bedeutung der Tunnel für die Hamas lasse sich kaum überschätzen, sagt der israelische Sicherheitsexperte Avi Bitzur, Leiter des Programms für nationale Sicherheit und Verteidigung der Heimatfront am Beit-Berl-Kolleg nördlich von Tel Aviv, unserer Redaktion. "Die Tunnel sind für die Hamas so wichtig wie Venen für den menschlichen Körper."
Nun scheint es, als habe Israel für das Tunnelproblem eine mögliche, wenngleich äußerst umstrittene Lösung gefunden. Wie das Wall Street Journal diese Woche mit Verweis auf ungenannte US-Offizielle berichtete, hat Israels Armee, die IDF, nahe dem Al-Shati-Flüchtlingscamp im Norden des Gazastreifens fünf große Pumpen installiert, die pro Stunde mehrere Tausend Kubikmeter Meerwasser in die Tunnel pumpen und die Terroristen damit an die Oberfläche zwingen könnten. Dem Bericht zufolge ist unklar, ob Israel sich bereits zur Anwendung der Methode entschlossen hat. Der israelische Armeesprecher Richard Hecht sagte lediglich: "Wir verwenden alle uns zur Verfügung stehenden Mittel, um gegen das Tunnelsystem vorzugehen."
Trinkwasser im Gazastreifen könnte weiter verunreinigt werden
Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Staat diese Taktik gegen die unterirdischen Verstecke der Hamas einsetzt: 2015 ließ Ägyptens Regierung Wasser aus dem Mittelmeer in jene Tunnel fluten, die die Hamas nahe der ägyptischen Grenze angelegt hatte. Kairo begründete den Schritt damit, dass die Terroristen die Tunnel zum Waffenschmuggel genutzt hätten. Schon damals sorgten sich Experten um die Beeinträchtigung des Trinkwassers.
Aus diesem Grund sehen auch manche israelische Wasserexperten eine mögliche Flutung nun skeptisch. Würde Israel Millionen Kubikmeter Meerwasser in die Tunnel pumpen, könnten erhebliche Mengen davon in den Grundwasserleiter des Gazastreifens eindringen, warnte Eilon Adar vom Zuckerberg-Institut für Wasserforschung an der Ben-Gurion Universität in Beersheva gegenüber der Times of Israel. "Der negative Einfluss auf die Grundwasserqualität würde mehrere Generationen andauern." Schon vor Jahren erreichten 97 Prozent des Grundwassers in Gaza nicht den Mindeststandard der Weltgesundheitsorganisation. Seit Beginn des Krieges ist die Wasserversorgung noch prekärer geworden: Weil Israel sich gegen die Lieferungen von Treibstoff stemmt aus Sorge, die Hamas könnte diesen für militärische Zwecke missbrauchen, fehlt Strom für Entsalzungsanlagen und Pumpen. Die Wasserlieferungen, die über den ägyptischen Grenzübergang Rafah nach Gaza gelangen, reichen Hilfsorganisationen zufolge bei Weitem nicht aus. Zudem gibt es ein weiteres Problem: Sollten sich in den Tunneln auch Geiseln befinden, könnte eine Flutung auch ihnen gefährlich werden.
Welche Optionen bleiben Israel in diesem Krieg?
Der Sicherheitsexperte Avi Bitzur sieht die Flutung als eine von fünf möglichen Taktiken, gegen die Tunnel der Hamas vorzugehen. So könnten israelische Soldaten in die Tunnel eindringen, wie US-Truppen es im Vietnamkrieg getan hatten. Dies sei jedoch wegen der räumlichen Enge erwiesenermaßen eine hochriskante Taktik, sagt Bitzur. Alternativ könnte die IDF die Tunnel bombardieren, mit Bulldozern zerstören oder die Eingänge verschließen und die Terroristen in den Tunneln dadurch aushungern. Doch auch diese Vorgehensweisen könnten Geiseln gefährden.
Es ist ein Dilemma, das sich kaum auflösen lässt, solange sich die Entführten an unbekannten Orten in Gaza befinden. Zugleich steht für Experten wie Bitzur fest: Wenn Israel sein erklärtes Kriegsziel erreichen will, die Hamas militärisch zu zerschlagen, muss die Armee früher oder später eine Lösung für die Tunnel finden.
Unterdessen hat Israels Armee im Gazastreifen nach den Worten von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu inzwischen rund die Hälfte aller Bataillonskommandeure der islamistischen Hamas getötet. Die Hamas verliere allmählich die Kontrolle über den abgeriegelten Küstenstreifen, fügte sein Verteidigungsminister Joav Galant hinzu. Die Armee teilte zuvor mit, nun auch "ins Herz" von Chan Junis, der größten Stadt im Süden des Gazastreifens, vorgestoßen zu sein. Nach Aufforderung der Armee waren Hunderttausende Schutzsuchende aus dem zuvor heftiger umkämpften Norden in den Süden des Gebiets geflüchtet.