Den Grünen bricht die Mitte weg
In Umfragen fällt die Öko-Partei zurück auf Werte aus dem Jahr 2018. Zugleich schwelt eine Debatte über mögliche Kanzlerkandidaten. Ist der Traum von der Volkspartei ausgeträumt?
Im Auswärtigen Amt ist die Stimmung angespannt in diesen Tagen. Im Nahen Osten drehen Israel und der Iran waghalsig an der Eskalationsspirale. In der Ukraine wird die Lage an der Front immer brenzliger, doch die Rufe nach mehr Munition und mehr Flugabwehr verhallen inzwischen im Getöse der allgemeinen Aufregung. Annalena Baerbock mahnt und warnt und reist von einem Konflikt zum nächsten. Gerade war sie wieder in Tel Aviv, nun trifft sie ihre G7-Außenminister-Kollegen auf Capri. Atemlos und mitunter auch hilflos wirkt ihr Einsatz. Gerade erst hat ihr der israelische Regierungschef eine Abfuhr erteilt. Baerbock habe „alle möglichen Vorschläge und Ratschläge“, sagte er. „Ich schätze das, aber ich möchte klarstellen, dass wir unsere Entscheidungen selbst treffen werden.“ Es gab schon einfachere Zeiten für eine deutsche Außenministerin. Wie schnell der eigene Einfluss schrumpfen kann, wird ihr aber nicht nur an den Krisenherden in aller Welt vorgeführt. Auch in Deutschland wird schwer Verdauliches serviert: Die Grünen fallen in einer aktuellen Forsa-Umfrage auf den niedrigsten Wert seit Juni 2018.
Vor allem für Baerbock ist das ein echter Tiefschlag. Drei Jahre ist es her, dass sie am 19. April 2021 zur ersten grünen Kanzlerkandidatin bestimmt worden war. Als neue Volkspartei sahen viele die Grünen, als Partei, in der die vermeintlichen Gegensätze Ökologie und Ökonomie vielleicht doch noch verschmelzen könnten. Inzwischen schwirren Spekulationen durch das politische Berlin, die von einem Wettstreit um die Kandidatur zwischen Baerbock und Robert Habeck vor der nächsten Bundestagswahl munkeln. Die neusten Umfragezahlen lassen durchaus auch die Frage zu: Lohnt sich dieser parteiinterne Machtkampf überhaupt? Können sich die Grünen eine Kanzlerkandidatin oder einen Kanzlerkandidaten nicht sparen, da die Erfüllung dieses Traums in unerreichbare Ferne gerückt ist?
Grüne kommen in Umfrage auf nur noch 12 Prozent
Zwar wiegelt Wirtschafts- und Klimaminister Habeck ab. „Wir werden alles zur rechten Zeit entscheiden, jetzt steht diese Debatte nicht an“, sagt er in einem Interview mit der Funke Mediengruppe. Doch dass es für das gewachsene Selbstbewusstsein der Grünen nicht einfach ist, dass ein grüner Spitzenkandidat fortan nicht zwingend zum politischen Standardprogramm gehört, dürfte kaum jemand in der Partei bestreiten. Auf gerade einmal 12 Prozent bringen es die Grünen laut Meinungsforschungsinstitut Forsa aktuell. Die Union käme auf 31, die SPD auf 16, die FDP auf 5 und die AfD auf 17 Prozent. Noch alarmierender für die Grünen als die reine Zahl, ist die Analyse, die Forsa-Chef Manfred Güllner dazu liefert: Vor allem die politische Mitte kommt den Grünen abhanden. Aus der Vielleicht-Volkspartei würde damit wieder eine klare Klientelpartei.
Jung, westdeutsch, weiblich, gebildet und links, so lassen sich typische Grünen-Wähler wieder grob skizzieren. „Die Grünen würden – fände jetzt eine Bundestagswahl statt – im Westen der Republik doppelt so viele Stimmen erhalten wie im Osten“, schreibt Güllner in seiner Analyse. „Von den jungen, 18 bis 29 Jahre alten Wählern würden die Grünen fast dreimal so viele Stimmen erhalten wie von den älteren, über 60 Jahre alten Wählern.“ Deutlich mehr Gut- als Geringverdiener unterstützen die Partei. Zu den Faktoren, die diese weitgehende Reduzierung auf die Kernklientel bewirkt hätten, gehörten die „kontroversen Diskussionen über die Energiepolitik der Bundesregierung“, heißt es in der Analyse.
Habeck und Baerbock galten einst als Erfolgsduo
Für Habeck und Baerbock ist die Entwicklung besonders bitter: Sie waren es, die im Jahr 2018 als gemeinsames Führungsduo den Weg der Partei aus der Nische ebneten. Mit ihnen hatten zwei „Realos“ die Parteispitze übernommen. Immer wieder hatte sich die Öko-Partei in den Jahren zuvor heftige Flügelkämpfe geliefert. Der Erfolg versöhnte die Lager: In Umfragen erlebten sie regelrechte Höhenflüge, auf bis zu 26 Prozent kamen sie mitunter. Bei der Bundestagswahl 2021 erzielten sie 14,7 Prozent – das war zwar deutlich weniger als erhofft, aber eben immer noch ein historischer Rekord. „Der nach der Übernahme der Parteiführung von Annalena Baerbock und Robert Habeck praktizierte pragmatisch-rationale Politikstil führte dazu, dass die Grünen zum ersten Mal auch von einem größeren Teil der Wahlberechtigten in der politischen Mitte akzeptiert wurden“, analysiert Güllner. „So kamen 40 Prozent der in der ersten Jahreshälfte 2021 neu gewonnenen Anhänger der Grünen aus der politischen Mitte, während es bei den Stammwählern nur 26 Prozent waren.“
An Stimmungsschwankungen innerhalb der Wählerschaft ist die Partei gewohnt. „Generell gab es bei den Grünen seit ihrer Parteigründung 1980 beziehungsweise ihrer Beteiligung als Liste bei der Europawahl 1979 keine einheitliche Entwicklungstendenz, sondern starke Schwankungen in der Wählergunst“, so Forsa-Chef Manfred Güllner.
Bestimmen die Grünen in einer Urwahl den Kanzlerkandidaten?
Baerbock und Habeck besitzen aktuell, so Forsa-Chef Güllner, nur noch in der grünen Kernklientel hohe Akzeptanz. Die Frage, ob die Grünen einen Kanzlerkandidaten ins Rennen schicken, soll wohl nach der Europawahl geklärt werden – ausgerechnet also der Wahl, bei der die Grünen bestenfalls auf ein durchwachsenes Ergebnis hoffen können. Parteiintern den größten Rückhalt genießen dürfte Habeck. Dass er Interesse hat, hat er selbst nie verheimlicht. Dass er beim letzten Mal zurückstecken musste, nagte schwer an ihm. Lange wirkte das Verhältnis des einstigen Duos angespannt. In Medienberichten wird immer wieder gemunkelt, die Entscheidung sei schon längst zu seinen Gunsten gefallen und auch Baerbock trage sie mit. Falls dem nicht so ist, könne es zu einem sogenannten Urwahl-Verfahren kommen, in dem die Basis entscheidet. Doch ganz gleich, wie es am Ende ausgeht, eines können sich die Grünen kaum leisten: einen auf offener Bühne ausgetragenen Machtkampf. Wie das endet, hat die Union 2021 eindrucksvoll bewiesen.
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Wer ist die Mitte? Auf diese Frage gibt es keine Antwort. Man kann sich nur hintasten. Ein Kennzeichen der Mitte ist sicherlich, daß sie keine extremen Positionen einnimmt. Aber letztere findet man vermehrt bei den Grünen. Eine "grüne 10%-Partei" kann Deutschland noch ohne größere Schäden verkraften. :)
Wolfgang B., dass Deutschland die Grünen gut "verkraftet", erkennt man schon daran, dass die großen Parteien die Inhalte der Grünen in den letzten 20, 30 Jahren zu großen Teilen übernommen haben.
Die Ziele der Grünen finden nach wie vor große Mehrheiten in der Bevölkerung, nur haben viele nun erkannt, dass auch sie ihren Teil beitragen müssen und dazu sind sie angesichts der gerade überstandenen und aktuellen Krisen noch nicht bereit. Aber das wird sich ändern, denn die Transformation unseres Lebensstils ist alternativlos, wenn wir nicht untergehen wollen.
Der technische Fortschritt wird uns dabei helfen. Ich lese fast jeden Tag über Entwicklungen, die in die richtige Richtung gehen wie z. B. Höhenwindräder oder Fortschritte bei der Feststoffbatterie. Die einzige Gefahr ist, dass Deutschland wegen der rückwärtsgewandten Obstruktionspolitik von Opposition und FDP abgehängt wird.
Wenn die aktuellen Krisen beendet sind und die Folgen des Klimawandels zunehmend das Leben der Menschen bestimmen, wird mancher, der sich von den notwendigen Maßnahmen derzeit belästigt sieht, erkennen, dass die Grünen seit Jahrzehnten nicht nur die Probleme richtig beschreiben, sondern auch die richtigen Lösungen haben.
Habeck stellt derzeit wichtige industrie- und energiepolitischen Weichen. Davon wird Deutschland noch lange profitieren, auch wenn das viele derzeit nicht so ganz überblicken. :)
Danke für diesen Kommentar. Dem kann ich nur beipflichten.
sehe ich genau so Wolfgang L. und von diesen ganzen Umfragen und Spekulationen halte ich eh nichts.
Nach derzeitiger Lage brauchen sich die Grünen keine Gedanken über die Kanzlerkandidatur in 2025 machen; sie sind nach Umfragen weit davon über die nächste Kanzleramt zu bestimmen zu können. Sie fallen immer mehr zurück auf ihre Kernwählerschaft; zunehmend verlieren sie den Zugang zu den Wählern der Mittelschicht. Aus dem eigenen Bekanntenkreis kenn ich einige, die bei letzten Wahl begeistert auf den grünen Zug gesprungen, jetzt aber bitter enttäuscht sind von den Leistungen der grünen Spitzenpolitiker in Berlin. Da hilft die hektische Reisetätigkeit von Frau Baerbock in keinster Weise und ihre Ratschläge zur Weltpolitik
werden zur Kenntnis genommen ohne positive Resonanz; Länder wie Israel oder China ignorieren sie oder weisen sie gar zurück.
Auch kommt bei den Wählern nicht gut, wenn man eigene deu Interessen übergeordneten internat. Anforderungen/Werten unterordnet; zumal die Grünen von Haus der Ruf vorher eilt, mit DEU nicht viel anfangen zu können. Zudem steht DEU derzeit im Vergleich zu anderen Industriestaaten wirtschaftlich eher bescheiden da - eigentlich am Ende der "Fresskette". Die chaotische und von Ideologie geprägte Wirtschaftspolitik des Hr Habeck zeigt Wirkung.
Zwischen der baren Ideologie und der Praxis bestehen eben doch erhebliche Unterschiede. Und davon eine echte Öko-Partei zu sein sind die Grünen ja schon etwas entfernt. Man hat halt gute Connections zur Öko Industrie.
"Den Grünen bricht die Mitte weg",. Könnte wohl heissen: Wer sich nur noch mit der Weltpolitik beschäftigt, der verliert den Kontakt zur Basis und wird abgewählt?
Gunther Kropp, Basel
VonGunther K. >>... "Den Grünen bricht die Mitte weg",. Könnte wohl heissen: Wer sich nur noch mit der Weltpolitik beschäftigt, der verliert den Kontakt zur Basis und wird abgewählt? Gunther Kropp, Basel<<
Ich mache andere Erfahrungen: In Bayern arbeiten und streiten überwiegend GRÜNE für den Klimaschutz, für die Windkraft, für eine zukunftsfähige Landwirtschaft.
Raimund Kamm