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Studie: Wie sich der Populismus in die Mitte der Gesellschaft frisst

Studie

Wie sich der Populismus in die Mitte der Gesellschaft frisst

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    Die AfD erreicht immer stärker auch bürgerliche Wählerinnen und Wähler.
    Die AfD erreicht immer stärker auch bürgerliche Wählerinnen und Wähler. Foto: Heiko Rebsch, dpa

    Es ist 7.44 Uhr, als Robert Sesselmann an diesem Montag vor dem Landratsamt in Sonneberg steht. Mit einer Tasche über der Schulter, Sakko, Jeans und Turnschuhen betritt er den Verwaltungsbau in Thüringen. Allein die Tatsache, dass sich Fotografen vor dem Amt positioniert hatten und die Zeit auf die Minute genau notierten, zeigt, wie besonders dieser eigentlich banale Amtswechsel in einem Landkreis im Osten der Republik ist. Deutschland hat seit Wochenbeginn seinen ersten Landrat von der AfD – einer Partei, die vom Landesverfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft und beobachtet wird. Nur einen Tag zuvor hat die AfD in Sachsen-Anhalt einen kommunalpolitischen Wahlsieg errungen: In der Kleinstadt Raguhn-Jeßnitz stellt die Partei künftig erstmals in Sachsen-Anhalt einen hauptamtlichen Bürgermeister. Zufall? Beginn einer Entwicklung? Können die kommunalen Erfolge einen allgemeinen AfD-Höhenflug befeuern?

    Der neue Landrat von Sonneberg, Robert Sesselmann (AfD), trat am Montag seinen Dienst an.
    Der neue Landrat von Sonneberg, Robert Sesselmann (AfD), trat am Montag seinen Dienst an. Foto: Daniel Löb, dpa

    „In diesem Land gerät etwas ins Rutschen“, mahnt Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) im Gespräch mit den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. „Wir sind auf dem Weg in eine Polarisierung, wie wir sie aus Amerika kennen. Die Debatte der vergangenen Woche hat nicht erkennen lassen, dass alle das begriffen haben.“ Politiker griffen zu „Schuldzuweisung und Abgrenzung, statt sich mit unangenehmen Wahrheiten auseinanderzusetzen“. Das sei nicht verantwortungsvoll. „Es muss jetzt um Sachfragen gehen.“ Vor „Spaltungskeimen“ warnt der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann. Man müsse harte Sachdebatten führen, aber dürfe diese nicht „aufmotzen“ bis hin zu Fragen von Krieg und Frieden.

    Populismus wird in Deutschland mehrheitsfähig

    Tatsächlich stützt eine aktuelle Studie die Sorge der Ministerpräsidenten: Populismus wird in Deutschland mehrheitsfähig. Und das befördert die Erfolge der AfD. Das Markt- und Sozialforschungsinstitut „Sinus“, eine der führenden Einrichtungen, wenn es um die Erforschung von gesellschaftlichen Milieus geht, hat herausgearbeitet, dass populistische Haltungen auch hierzulande inzwischen keineswegs ein Randphänomen sind. 68 Prozent der dort Befragten stimmen zu, dass sich Politiker mehr Rechte herausnehmen als normale Bürger. Die Aussage „Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten dahinter stehender Mächte“ erreicht 49 Prozent Zustimmung. „Das Grundvertrauen in den institutionalisierten Politikbetrieb ist gestört, aber der Glaube an die Demokratie wankt nicht bei der Mehrheit“, sagt Norbert Schäuble, Gesellschafter des Sinus-Instituts. Ersteres hänge auch mit der Unzufriedenheit mit der Regierung und den anderen etablierten Parteien zusammen. 

    Profitieren kann von dieser Stimmung aktuell vor allem die AfD. Die Positionen der Rechtsaußen-Partei genießen inzwischen selbst in der Mitte der Gesellschaft Zustimmung oder wirken zumindest nicht so abschreckend, dass die Partei nicht wenigstens als Protest-Signal genutzt wird. In der Zusammensetzung der AfD-Wählerinnen und -Wähler zeigen sich laut Sinus-Institut deutliche Gewichtsverschiebungen in den letzten zwei Jahren. Gehörten im Jahr 2021 noch 43 Prozent der Wähler zum bürgerlichen Milieu, stieg der Anteil im Jahr 2022 auf 50 Prozent und liegt aktuell bei 56 Prozent. Hinter dieser Zahlenreihe steckt mehr als ein bloßes Rechenspiel – sie ist für Politik und Gesellschaft von großer Bedeutung. Denn es ist die Mitte, die das Land prägt. „Die Milieus der Mitte, also das bürgerliche Segment, definieren in hohem Maß, was in einer Gesellschaft als normal gilt“, sagt Silke Borgstedt, Geschäftsführerin des Sinus-Instituts. „Daher sind die Ergebnisse insbesondere mit Blick auf mögliche Kipp-Punkte in den politischen Mehrheitsverhältnissen von Bedeutung.“

    Mitte der Gesellschaft gilt als Basis des Landes

    Vor allem jene Menschen, die in der Milieu-Forschung als „pragmatische Mitte“ bezeichnet werden, und jene, die als „konservativ-gehoben“ gelten, sprechen stärker als in früheren Jahren auf die AfD an. Gerade der pragmatischen Mitte kommt eine wichtige Stellung zu. Sie gilt als Brücke zwischen progressiven und traditionellen Gruppen in der Gesellschaft. „Sie bildet den modernen Mainstream, der sich stets im Spagat zwischen Spaß, Risiko und Aufbrechen sowie Sicherheit, Verankerung und Zugehörigkeit befindet“, schreibt das Sinus-Institut. In diesem Milieu finde sich ein großer Anteil an Wechselwählerinnen und -wählern, die sich stark an tagesaktuellen Themenkonjunkturen orientieren. Und diese „Themenkonjunkturen“ drehten sich in den vergangenen Monaten um vieles, was in die Gewohnheiten und Gewissheiten genau dieser gesellschaftlichen Mitte eingreift. Die sah sich Zumutungen ausgesetzt, „die die Verwirklichung einer angestrebten bürgerlichen Normalbiografie von Haus, Kinder, Auto gefährden“, so die Sinus-Experten. „Sie sind verunsichert und frustriert von der mangelnden Lösungsfähigkeit von Regierung und politischem System.“ Besonders das bürgerliche Lager wünsche sich gesicherte Verhältnisse und einen angemessenen Status – erlebe stattdessen aber starke Angriffe auf die eigenen Werte und den eigenen Lebensstil, der bisher als normal gegolten habe. Und je stärker diese Entwertung empfunden werde, desto größer seien Frust und ein Gefühl von Nostalgie. 

    „Je mehr der Zukunftsoptimismus schwindet, desto mehr wächst der Anteil des bürgerlichen Segmentes unter AfD-Wählerinnen und -Wählern“, sagt Silke Borgstedt. Das bedeute aber auch: Die gesellschaftliche Mitte sei für die Politik weiterhin erreichbar. Ihr Rat: „Gewünscht ist eine konstruktive und zukunftsorientierte Politik.“ Die Mitte brauche eine Perspektive und einen Weg, wie das Ziel erreicht werden könnte. „Wir sehen auch: Bei der Frage nach langfristigen Parteibindungen, also welche Partei einem am nächsten steht, schneidet die AfD deutlich schlechter ab als in aktuellen Umfragen. Das heißt, die anderen Parteien können die Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen.“

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