Bewaffnete Kämpfer tauchten in Dörfern an der syrischen Mittelmeerküste auf und trennten die Männer von Frauen und Kindern. Dann erschossen sie alle Männer – allein in drei Ortschaften wurden 69 Menschen getötet, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mitteilte. Mehr als zwei Dutzend weitere Massaker mit insgesamt 745 Toten zählte die Beobachtungsstelle in den vergangenen Tagen im Siedlungsgebiet der alawitischen Minderheit in Syrien. Für die schlimmste Gewalt seit Ende des 13-jährigen Bürgerkrieges im Dezember sind sunnitische Gruppen verantwortlich, die Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa und dessen Miliz HTS unterstützen. Scharaa verurteilte die Massaker, doch sein Vorhaben eines friedlichen Übergangs zu einem neuen Staat könnte an seinen eigenen Kämpfern scheitern.
Ein Aufstand von Anhängern des früheren Diktators Baschar al-Assad im westsyrischen Alawiten-Gebiet diente der Kämpfer als Vorwand für die Massaker. Assad-treue Verbände hatten die Truppen der Regierung angegriffen und Teile der Küstenprovinz Latakia unter ihre Kontrolle gebracht. Damaskus sei zu sicher gewesen, alles unter Kontrolle zu haben, habe außerdem zu viele andere Probleme und nicht genügend militärische Kapazitäten, sagt Heiko Wimmen, Projekt-Direktor für Irak, Libanon und Syrien bei der Denkfabrik International Crisis Group. In Syrien gebe es hunderttausende Ex-Soldaten des Assad-Regimes, die einen Aufstand anzetteln könnten, sagte Wimmen unserer Redaktion.
Syrien: Offenbar mehr als 1000 Menschen bei Massakern getötet
Die Beobachtungsstelle für Menschenrechte bezifferte die Gesamtzahl der Opfer von Massakern und Kämpfen auf mehr als tausend. Die Regierung erklärte, sie habe die Lage größtenteils wieder unter Kontrolle, doch die Gefechte gingen am Sonntag weiter. Nach syrischen Regierungsangaben haben die Aufständischen rund 4000 Mann unter Waffen.
Die Alawiten stehen anders als die sunnitische Mehrheit der Syrer dem schiitischen Islam nahe und bildeten unter Assad, der selbst Alawit ist, die Elite des Staates, obwohl sie nur etwa zehn Prozent der 20 Millionen Syrer ausmachen. Nach Assads Sturz vor drei Monaten verbot Scharaa seiner islamistischen HTS und anderen radikal-sunnitischen Gruppen, Zivilisten anzugreifen. Bis Donnerstag hielten sich die Truppen der Regierungsseite größtenteils daran.
„Übertriebene Reaktionen“: Regierung in Damaskus erklärt, nicht für Massaker verantwortlich zu sein
Dann begann die Rebellion der Assad-Anhänger und der Terror der sunnitischen Milizen in Latakia. Assad-treue Soldaten unter Befehl des ehemaligen Brigadegenerals Ghiath al-Dala riefen dazu auf, Scharaas Regierung zu stürzen. HTS-Kämpfer und andere Truppen rückten in Latakia ein, um den Aufstand niederzuschlagen.
Scharaa rechtfertigte die Offensive gegen die Assad-Anhänger und räumte ein, es habe „übertriebene Reaktionen“ auf den Aufstand gegeben. Die Regierung in Damaskus erklärte, für die Massaker seien Gruppen verantwortlich, die nicht unter ihrem Befehl gestanden hätten, sondern spontan nach Latakia gekommen seien. Regierungstruppen sperrten demnach einige Straßen, um die marodierenden Milizen aufzuhalten.
Selbst wenn Scharaa die Milizen bändigen sollte, haben ihn die Massaker innen- und außenpolitisch geschwächt. Auch das Misstrauen anderer Minderheiten in Syrien wird wachsen. Die Drusen im Süden des Landes haben bereits eine Vereinbarung mit Damaskus ausgehandelt, die es ihnen erlaubt, ihre Waffen zu behalten und ihre Region ohne Truppen der Zentralregierung zu verwalten, wie Syrien-Experte Wimmen sagt: „Sie fühlen sich jetzt bestimmt bestätigt.“ Dasselbe gelte für die Kurden im Nordosten Syriens, die sich ebenfalls weigern, ihre Truppen der Regierung zu unterstellen.
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