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Hannover: Terror-Warnung: Der Fußball rollt die Fahnen ein

Hannover

Terror-Warnung: Der Fußball rollt die Fahnen ein

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    Auszug aus der Fußballarena von Hannover – noch vor dem Anpfiff. Wahrscheinlich ist ein Stadion nie geräuschloser geräumt worden.
    Auszug aus der Fußballarena von Hannover – noch vor dem Anpfiff. Wahrscheinlich ist ein Stadion nie geräuschloser geräumt worden. Foto: Peter Steffen, dpa

    Bis vor kurzem durfte Reinhard Rauball, 68, noch glauben, er habe als Fußball-Funktionär alles erlebt, was einem vielseitig eingesetzten Führungsspieler widerfahren kann. Rauball ist seit Jahren Präsident von Borussia Dortmund, Aufsichtsratschef der Deutschen Fußball-Liga und Vizepräsident des Deutschen Fußball-Bundes. Mehr geht kaum.

    Der Jurist und kurzzeitige Justizminister von Nordrhein-Westfalen durfte zu Recht vermuten, im Fußball das Schlimmste hinter sich zu haben. Ein Irrtum, wie sich nun herausgestellt hat. Zuerst die Affäre um das deutsche Sommermärchen, deren Aufklärung er federführend vorantreibt. Es folgte die Schreckensnacht von Paris, die Rauball hautnah miterlebte. Dann, am Dienstagnachmittag, das drängende Votum der Landesverbände für den Präsidentschaftskandidaten Reinhard Grindel, das einen Keil in den Verband treibt.

    Fassungslosigkeit bei den deutschen Fans

    Als Rauball sich gerade davon erholt hat, passiert, was es in der 115-jährigen Geschichte des DFB noch nie gegeben hat. Eineinhalb Stunden vor Anpfiff der Partie Deutschland gegen die Niederlande entschließt sich die Bundesregierung wegen drohender Terroranschläge zu einer Absage der Begegnung. Ein Spiel, das gerade des Terrors wegen stattfinden sollte. Mit dem der Fußball, der in Paris beinahe als Bühne mörderischer Anschläge missbraucht wurde, dem Terror die Stirn bieten wollte. Ein Spiel, in dem kaum der Fußball, sondern Demokratie, Freiheit und die Werte der westlichen Welt im Mittelpunkt standen. Alles also, was die Gesandten des sogenannten Islamischen Staates mit Bomben vernichten wollen.

    Dieses Spiel ist um 19.20 Uhr verloren. In dieser Minute fordert die Polizei rund um die HDI-Arena in Hannover über Lautsprecher die Stadionbesucher auf: „Bleiben Sie bitte ruhig. Gehen Sie einfach nach Hause. Es droht keine Gefahr.“ Rat- und fassungslos sehen sich die Fans, von denen sich einige Tausend bereits im Stadionbereich aufhalten, an. Von den hunderten Polizisten, die teilweise mit Maschinenpistolen aufgezogen sind, gibt es auf Fragen nach Gründen keine Antwort, außer der, dass sie es selbst nicht wüssten. Geleitet vom freundlichen Drängen der Uniformierten treten die Menschen schweigend den Heimweg an. Ein Zug der Geschlagenen. Wahrscheinlich ist noch nie ein Stadion derart geräuschlos geräumt worden wie die Arena in Hannover.

    Gerücht: Bombe im Kofferraum eines Autos gefunden

    Dabei hat es schon auf dem Hinweg Gründe gegeben, unruhig zu werden. In einem Umkreis von etwa 300 Metern vor der Spielstätte sind alle Zufahrten gesperrt. Es gibt Taschenkontrollen und Leibesvisitationen. Dann das erste von mehreren Gerüchten an diesem Abend: Im Kofferraum eines Autos sei eine Bombe gefunden worden. Die Fußballfans, die sich an den Kontrollpunkten zu Hunderten stauen, reagieren ungläubig. Angst aber ist nicht zu spüren. An den Stadioneingängen wiederholt sich die Kontrollprozedur, begleitet von der Parole, die Polizei habe in einem Krankenwagen eine Bombe entdeckt.

    Die Polizisten aber wissen von nichts. Nur, dass keine Gefahr drohe. Genau das aber hat die Regierung Stunden zuvor ganz anders eingeschätzt. Bundesbehörden und französischer Geheimdienst haben ermittelt, dass ein Attentat auf die Arena geplant sei. Kanzlerin Angela Merkel, die sich mit Kabinettskollegen zum Spiel angekündigt hat, um gegen den Terrorismus Flagge zu zeigen, sitzt mit Innenminister Thomas de Maizière in einer Luftwaffenmaschine nach Hannover. Sie entscheiden, gemeinsam mit Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius, das Spiel abzusagen. Der DFB wird nicht gefragt, nur informiert. Merkel fliegt nach Berlin zurück, de Maizière bleibt vor Ort.

    Hannovers Polizeipräsident spricht von konkreten Hinweisen auf Bombenanschlag

    Der dortige Polizeipräsident Volker Kluwe spricht kurz darauf von „konkreten Hinweisen, dass jemand im Stadion einen Sprengsatz zünden wollte“. Er rät den Menschen, zu Hause zu bleiben. De Maizière relativiert die Empfehlung später.

    Die Nationalmannschaft, die im Konvoi mit der niederländischen Auswahl zum Zeitpunkt der Absage etwa fünf Kilometer vom Stadion entfernt ist, wird umgeleitet. Es bedarf keiner großen Fantasie, sich die Atmosphäre vorzustellen, die in diesem Moment im Bus geherrscht haben dürfte.

    Vier Tage nachdem die Spieler und Trainer eine unsichere Nacht in den Katakomben des Stade de France verbracht haben, holt sie der Terror wieder ein. Dabei haben Manager Oliver Bierhoff und Trainer Joachim Löw mit dem Spiel gegen Holland eine Botschaft verbunden. Bierhoff sagte: „Wir treten für unsere Werte, unsere Freiheit, unsere Kultur und unsere Verbundenheit mit dem französischen Volk ein.“

    Teampsychologe betreute DFB-Mannschaft

    Es war ja nicht unumstritten, ob sich Pietät, angesichts von 130 Toten und hunderten Verletzten, mit einem Fußballspiel vereinen ließe. Zudem haben die Bomben von Paris in den Köpfen der Spieler derart nachgewirkt, dass die Teamführung Hans-Dieter Herrmann, den langjährigen Teampsychologen, einschaltete.

    Während der Mannschaftsbus ins Hotel nach Barsinghausen zurückfährt, laufen die Journalisten den knappen Kilometer vom Stadion zum hermetisch abgeriegelten Innenministerium. Dort haben sich der Hausherr Pistorius sowie de Maizière und Rauball versammelt. Die drei sehen so verstört aus wie die etwa hundert Medienleute, die vor einem Ring schwerbewaffneter Polizei gewartet haben, ehe sie in Fünfergruppen, nach penibler Leibesvisitation, Zugang erhalten. Eineinhalb Stunden zieht sich die Prozedur hin. Dazwischen taucht ein Trupp Neonazis auf, die Banner mit seltsamen Botschaften in die Kameras halten. Die Polizisten, die mit der Bewachung der Journalisten beschäftigt sind, lassen sie gewähren. Von irgendeinem Handy klingt die Marseillaise. In London, wo England gegen Frankreich antritt, wird also gespielt.

    Bizarre Pressekonferenz ohne konkrete Informationen

    Oben, im Ministerium, irgendwie auch. Es läuft eine jener bizarren Pressekonferenzen, in denen die eine Seite etwas erfahren will, die andere aber einfach nichts mitteilen möchte. Ein Patt sozusagen, in dem der Bundesinnenminister sein Schweigen zu den konkreten Gründen für die Spielabsage damit entschuldigt, dass „ein Teil dieser Antworten die Bevölkerung verunsichern würde“.

    Darüber hinaus nur das, was auch für den Tag darauf gilt: „Es gab keine Festnahmen, es wurde kein Sprengstoff gefunden.“ Dafür ein verdächtiges Paket in der Gepäckablage eines Intercity-Zuges nach Oldenburg. Weil ein Spürhund angeschlagen hat, sperrt die Polizei Hannovers Hauptbahnhof. Spezialisten sprengen das Paket, über dessen Inhalt es später heißt, es sei eine Sprengstoff-Attrappe gewesen. Auch die TUI-Arena, eine Konzerthalle für 12000 Zuschauer, in der die „Söhne Mannheims“ auftreten sollen, ist zunächst gesperrt, wird dann aber freigegeben. So viel Glück ist Maceo Parker nicht beschieden. Der Veranstalter sagt nach Polizei-Warnungen das Konzert mit dem bekannten Saxofonisten ab und schickt 900 Besucher nach Hause.

    Reinhard Rauball denkt an die Bundesliga

    Im Ministerium, wo schnell deutlich wird, dass de Maizière und Pistorius mit ihrer eilends einberufenen Pressekonferenz vor allem den Eindruck erwecken wollen, man habe die Lage im Griff, wirkt Reinhard Rauball ein wenig verloren. Der schmale Mann mit dem weißen Haar leidet offenbar am meisten unter der Absage des Länderspiels. „Der Fußball in Deutschland hat mit diesem Tag in vielen Facetten eine Wende bekommen“, prophezeit der 68-Jährige. Rauball denkt dabei auch an die Bundesliga, die an diesem Wochenende wieder spielt. Mit Stadien wie dem in Dortmund, wo 83.000 Zuschauer Platz finden. Begegnungen und deren Besucher, die auch von noch so viel Polizei nicht zu schützen sind. „Dass man mit einer Mannschaft zweimal in nur vier Tagen derlei erleben muss, war für mich nicht vorstellbar“, sagt Rauball noch in der Nacht.

    Er klingt dabei, als fürchte er, das Schlimmste noch nicht hinter sich zu haben.

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