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Özil-Rücktritt: Chaostruppe DFB: Die deutsche Fußball-Krise und ihre Gesichter

Özil-Rücktritt

Chaostruppe DFB: Die deutsche Fußball-Krise und ihre Gesichter

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    Da redeten sie noch miteinander: Bundestrainer Joachim Löw, Nationalspieler Mesut Özil, DFB-Präsident Reinhard Grindel, Ilkay Gündogan und DFB-Manager Oliver Bierhoff Mitte Mai bei einem Krisengespräch in einem Hotel. 
    Da redeten sie noch miteinander: Bundestrainer Joachim Löw, Nationalspieler Mesut Özil, DFB-Präsident Reinhard Grindel, Ilkay Gündogan und DFB-Manager Oliver Bierhoff Mitte Mai bei einem Krisengespräch in einem Hotel.  Foto: Getty Images, DFB, dpa

    Dazu gehört Mut. Kurz vor der Weltmeisterschaft lässt sich Reinhard Grindel von einem Lokaljournalisten in seinem Bungalow in Rotenburg besuchen. Es schwingt immer die Gefahr mit, mehr preiszugeben, als man gewillt ist. Idylle zwischen Hamburg und Bremen. Ein Foto, natürlich. Schließlich sieht sich Grindel als „Präsident zum Anfassen“. Sagt er zumindest. Da sitzt er also an einem Schreibtisch, der so auch in jedem anderen Büro stehen könnte. Ein Haufen Kugelschreiber, die alle nicht benötigt werden, weil die Korrespondenz dann doch wieder an der Computer-Tastatur erledigt wird. Auf dem Tisch liegt ein Buch, noch nicht von der Kunststofffolie befreit. Autor: Otto Waalkes. Titel: „Kleinhirn an alle“.

    Fußball-Deutschland wüsste ganz gerne, was sich in diesen Tagen in Grindels Kopf so abspielt. Jetzt, da der 56-Jährige massiv in die Kritik geraten ist, da die Anschuldigungen des gerade zurückgetretenen Mesut Özil noch nachhallen und erste Politiker bereits fordern, dass Grindel als Präsident des Deutschen Fußball-Bunds gehen muss.

    Auf den Fußballplätzen treffen sich Dicke und Dünne, Türken und Deutsche

    Sieben Millionen Mitglieder versammelt der DFB unter seinem Dach. Er ist damit der größte Sportfachverband der Welt. Und mehr als nur das. Er empfindet sich selbst als sozialen Kitt. Auf dem Feld sollen sich alle treffen: Türken und Deutsche, Dicke und Dünne, Frauen und Männer, Dumme und Kluge. Es ist nicht so, dass der DFB das Thema Integration nur als politisch gewolltes Marketinginstrument nutzt. Wo sonst kommen so viele Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammen? Tausende Jugendtrainer stehen jede Woche auf den Plätzen der Republik. Der DFB bietet Fortbildungskurse für die Übungsleiter an. Das deutsche Nachwuchssystem mag sportlich nicht mehr an erster Stelle stehen, die Integrationsarbeit tut es noch.

    Dass sich nun ausgerechnet Präsident Grindel Rassismus-Vorwürfen ausgesetzt sieht, ist nur eine von vielen Wendungen, die vor wenigen Monaten noch undenkbar schien. Denn beim DFB läuft es damals rund: Der Weltmeister hat sich mit einer Rekordserie zur WM in Russland geschossen. Zuvor hat das deutsche Team mit einer besseren Juniorenauswahl den Confed-Cup gewonnen. Sogar die zweite Reihe war gut genug, um die besten Mannschaften der Welt zu schlagen. Wer bitte soll dieses Team stoppen? Südkorea?

    In sämtlichen Bereichen, so scheint es, ist der Verband optimal aufgestellt. Oliver Bierhoff plant schon die Titel der kommenden Jahrzehnte. Das ist seit wenigen Monaten sein Job. Aus dem Manager der Nationalmannschaft ist der „Direktor für die Bereiche Nationalmannschaften und Fußball-Entwicklung“ geworden – so etwas wie der Super-Minister des Verbands. Der 50-Jährige handelt nicht mehr nur Sponsorenverträge aus, sondern ist verantwortlich für die Auswahlteams der Männer, Frauen und Junioren sowie die Talentförderung und Trainerausbildung und die geplante DFB-Akademie. Diese soll in den nächsten drei Jahren im Frankfurter Süden auf einer bisherigen Galopprennbahn errichtet werden. Kosten: 150 Millionen Euro. Hier werden die Weltmeister der Zukunft geformt.

    Heute ist der Weltmeister von 2014 die Lachnummer 2018

    Während einer kleinen Presserunde im März umreißt Bierhoff die Pläne. Holger Stromberg, ehemaliger Koch der Nationalmannschaft, serviert russische Spezialitäten. Die WM naht auch kulinarisch. Bierhoff redet von Think Tanks. Davon, dass Anregungen aus dem Silicon Valley angenommen werden. Austausch mit Technologie-Unternehmen. Der deutsche Fußball scheint den Weg in die Zukunft zu kennen. Und nimmt doch irgendwo eine falsche Abzweigung.

    Mittlerweile ist der Weltmeister von 2014 die Lachnummer 2018. Statt sich für die integrative Kraft rühmen zu lassen, muss sich der Verband gegen Rassismus-Vorwürfe eines ehemaligen Nationalspielers wehren.

    Ilkay Gündogan und Mesut Özil posieren zusammen mit dem türkischen Präsidenten Erdogan.
    Ilkay Gündogan und Mesut Özil posieren zusammen mit dem türkischen Präsidenten Erdogan. Foto: Uncredited/Pool Presdential Press Service/AP/dpa

    Einen Tag vor der Nominierung des WM-Kaders im Mai tauchen jene Fotos auf, die letztlich dafür sorgen, dass Mesut Özil das deutsche Trikot nicht mehr tragen wird und Grindel um sein Amt fürchten muss. Özil posiert mit Ilkay Gündogan und dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Deutsche Nationalspieler mit einem türkischen Autokraten. Mittlerweile sieht man beim DFB ein, dass der Umgang mit den Fotos und ihren Folgen in Fachpublikationen wohl nicht als Beispiel gelungenen Krisenmanagements genannt wird. Eine Woche vor Beginn der WM versucht Bierhoff, das Thema mit einer Basta-Ansage zu beenden. Doch so einfach ist das nicht.

    Grindel dürfte sich aber im Amt immer noch sicher fühlen, hätte die Nationalmannschaft in Russland ansatzweise überzeugt. Münchner Spieler im Formtief verhinderten das ebenso wie ein Bundestrainer, der in seiner personellen und taktischen Auswahl schon glücklichere Tage hatte. Joachim Löw überraschte die Öffentlichkeit vor dem Turnier damit, Leroy Sané nicht zu nominieren. Der ist einer von jenen Spezialbegabten, die ein Spiel mit einer einzigen Aktion entscheiden können. In Russland tritt eine irrlichternde deutsche Auswahl auf. Es hätte trotzdem anders laufen können. Hätte Leon Goretzka seine Chance gegen Südkorea verwandelt. Oder Mats Hummels. Oder Timo Werner. Deutschland wäre zumindest ins Achtelfinale gekommen. Ob dann heute dieselben Debatten geführt werden würden? Fußball ist auch immer Glückssache. Jahrelang machte der DFB viel richtig und hatte dazu Glück. In den vergangenen Monaten stellte man sich tölpelhaft an. Pech kam hinzu.

    Özil hat Grindel vorgeworfen, er sei seinem Amt nicht gewachsen

    Die Nationalelf hat sich abgekoppelt vom Verbandsgeschehen. Vermarktet sich selbst unter der Marke „Die Mannschaft“. Als Motto für die WM entscheidet sich Bierhoff für das kryptische #zsmmn. Alles eine Umdrehung zu viel. Hält einem keiner im Erfolgsfall vor. Jetzt aber befindet sich das Team samt Verband in der Krise. Und Grindel wäre als Krisenmanager gefragt.

    Die Mehrheit will, dass Reinhard Grindel zurücktritt

    Struktur: Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) ist der größte Sportfachverband der Welt. Die Struktur des Verbands gleicht einer Pyramide. An der Spitze steht die DFB-Zentralverwaltung mit Sitz in Frankfurt am Main, danach folgt der Ligaverband, in dem die 36 Profiklubs der ersten und zweiten Bundesliga zusammengeschlossen sind sowie die fünf Regionalverbände, die sich aus 21 Landesverbänden zusammensetzen. Darunter kommen die 24.958 Vereine mit 7.043.964 Mitgliedern.

    Präsident Reinhard Grindel ist als DFB-Präsident zugleich der oberste Repräsentant des deutschen Fußballs. Die Bundesbürger aber sind immer weniger zufrieden mit seiner Arbeit. 49,7 Prozent der Befragten sprechen sich dafür aus, dass Grindel nach der Affäre um den bisherigen Nationalspieler Mesut Özil zurücktritt. Das geht aus einer repräsentativen Umfrage des Instituts Civey hervor. 36,6 Prozent sind dagegen, 13,7 Prozent gaben an, in dieser Frage unentschieden zu sein. (AZ)

    Sein Schreibtisch in Rotenburg aber ist verwaist. Der DFB-Präsident urlaubt in Österreich. Die Anschuldigungen Özils, Grindel sei dem Amt nicht gewachsen, werden wachsweich in einer Pressemitteilung bestritten. Grindel saß 14 Jahre lang im Bundestag. Er hat gesehen, wie Karrieren steil nach oben gehen und wie plötzlich sie enden können. Er selbst hielt sich meist zurück. Wurde vor zwei Jahren Präsident des DFB, nachdem der joviale Wolfgang Niersbach zurücktreten musste, der nicht so ganz genau erklären konnte, wie und warum jene 6,7 Millionen Euro rumgeschoben wurden, die den Deutschen das Sommermärchen 2006 einbrachten. Grindel fehlte das, was zuvor Grundbedingung war, um etwas im DFB zu werden: Stallgeruch. Das war sein Vorteil. Das ist nun sein Nachteil. Verbunden fühlen sich ihm die wenigsten. Zwar arbeitet er tatsächlich an und mit der Basis, am Ende aber entscheiden die Eliten.

    Während der WM in Russland legt er am 22. Juni einen Kranz in Sotschi nieder. Es ist der Jahrestag des Angriffs der Wehrmacht 1941. Ein deutscher Journalist ist dabei. Einen Monat zuvor reist Grindel mit der U18-Nationalmannschaft nach Wolgograd. 75 Jahre zuvor hieß die Stadt noch Stalingrad. Hier kamen in den Kämpfen des Zweiten Weltkrieges mehr als 700.000 Menschen ums Leben. Auch auf Betreiben Grindels treffen sich Vertreter beider Länder zur „Deutsch-Russischen Fußballwoche“. Der Nachhall in Deutschland: kaum zu hören.

    Grindel will Brückenbauer sein. Doch der Pontifex des DFB wird den Anstrich eines langweiligen Berufspolitikers nicht los. Dabei positioniert er sich verhältnismäßig offensiv gegen die russische Politik. „Nur die Einhaltung von Menschenrechten kann neue Menschheitsverbrechen verhindern“, sagt er in Russland. Grindel bezieht Stellung und setzt sich für Aussöhnung ein. Er versucht den Amateurfußball zu stärken. Doch das zählt wenig, wenn man an entscheidenden Stellen schwerwiegende Fehler macht.

    Grindel macht Ferien, Erdogan telefoniert mit Özil

    Dass er ohne Not den Vertrag von Joachim Löw bereits vor der WM um zwei Jahre bis 2022 verlängert hat, kann den DFB noch teuer zu stehen kommen. Sollte die Mannschaft die nächsten Länderspiele verlieren, ist Löw nicht mehr zu halten. Eine Entlassung würde Millionen kosten. Fraglich auch, warum er Löw nach der missratenen WM sofort eine Job-Garantie gab. Hätte es nicht erst mal einer Analyse bedurft? Das alles aber ist nichts gegen die entscheidende Partie am 27. September.

    Dann tritt Deutschland gegen die Türkei an. Es geht um die Europameisterschaft 2024. Die 18 Mitglieder des Uefa-Exekutivkomitees entscheiden, wer das Turnier ausrichtet. Vor wenigen Wochen galt es noch als undenkbar, dass Deutschland dieses Duell verlieren könnte. Ein weltoffenes und sportbegeistertes Land gegen die der Autokratie entgegensteuernde Türkei. Nun sieht sich Grindel Rassismus-Vorwürfen ausgesetzt und macht Ferien. Recep Tayyip Erdogan hingegen telefoniert mit Mesut Özil. „Seine Haltung ist national und patriotisch. Ich küsse seine Augen. Ich stehe hinter Mesut aufgrund seiner Äußerungen“, lässt er danach mitteilen.

    Was bei den Wahlmännern wohl besser ankommt? Sollten die Deutschen das Duell um die EM verlieren, hätte auch Grindel endgültig verloren. Er müsste zurücktreten. Immerhin hätte er dann Zeit zum Lesen. Vielleicht liegt das Buch ja noch immer auf seinem Schreibtisch: „Kleinhirn an alle“.

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