Die Kanzlerkandidatin der Grünen kommt in Rot zu den Bossen der deutschen Industrie. In der Welt der blauen und schwarzen Anzüge ist das ein Ausrufezeichen. „Achtung, hier komm ich“, sagt Annalena Baerbock damit. Nach ihrem Traumstart in das Rennen um die Macht war die 40-Jährige zuletzt ins Straucheln geraten. Verspätet gemeldete Einkünfte und falsche Angaben im Lebenslauf haben Baerbock angreifbar gemacht, in den Umfragen fällt sie ab.
Annalena Baerbock und die Grünen müssen um Vertrauen in der Industrie kämpfen
Früher war ein Auftritt auf dem Tag der deutschen Industrie für Grünen-Politiker wie ein Besuch auf dem Mond. Zwischen ihrem Weltbild und dem der Manager aus den Vorstandsetagen taten sich Welten auf. Das hat sich gründlich gewandelt. Ex-Siemens-Chef Joe Kaeser hat Baerbock öffentlich geadelt, indem er sich öffentlich für sie als Kanzlerin aussprach. Doch Kaeser ist die Ausnahme, die Elite der deutschen Wirtschaft hat immer noch Vorbehalte gegen die Öko-Partei. Die Gründe dafür sind bekannt: Die Grünen wollen die Vermögensteuer wiederbeleben, die auch Unternehmen träfe. Und sie sind bereit, den Klimaschutz über alles zu stellen und notfalls den Ausstoß an Klimagas per Abschaltdatum für Fabriken, Kraftwerke und Verbrennermotoren zu beschließen.
Baerbock entscheidet sich an diesem Dienstag gut 100 Tage vor der Wahl, auf Deeskalation zu setzen und der Industrie die Hand zu reichen. „Wir werden es nur gemeinsam schaffen können“, sagte sie in den tiefen Raum der Konzerthalle, die der Bundesverband der Industrie (BDI) gemietet hat. Im Betrieb der Hauptstadt ist es eine der ersten politischen Großveranstaltungen, bei der Leute wieder von Angesicht zu Angesicht zueinander kommen. Baerbocks Grundidee hinter ihrem Angebot an die Unternehmen ist, dass sie Ausgleichszahlungen für ihre Anstrengungen zum Klimaschutz bekommen sollen, um nicht von Wettbewerbern aus dem Ausland verdrängt zu werden. Die grüne Kandidatin bekommt für ihr Angebot freundlichen Applaus, mehr nicht. Einige Versprecher verraten, wie stark sie unter Druck steht. Die versammelten Vorstände reagieren auch deshalb reserviert, weil sie wissen, wie stark die Grünen von Organisationen wie Fridays for Future und Umweltschutzverbänden unter Zugzwang gesetzt werden, wenn sie aus deren Sicht zu stark vor den Unternehmen kuschen. Zu besichtigen ist das am mühsam errungenen Kompromiss über die Abschaltung der Kohlekraftwerke, der von Grünen und Klimaschützern aufgekündigt wurde.
Armin Laschet warnt vor Vorgaben und Verbotspolitik der Grünen
Der Mann, der zu dem Kompromiss steht, heißt Armin Laschet und ist Kanzlerkandidat von CDU und CSU. „Meine Vorstellung ist, dass wir noch in 20 Jahren eine Stahlindustrie haben, noch eine chemische Industrie haben“, macht der Rheinländer in seiner Rede deutlich. Der 60-Jährige kommt aus Nordrhein-Westfalen – und obwohl im Ruhrgebiet der Rauch aus den Schloten nicht mehr den Himmel verstaubt, ist NRW noch immer ein riesiges Industriegebiet.
Laschet verweist genüsslich auf seine Entfesselungspakete, die er zu Hause für die Unternehmen geschnürt hat. Sprachlich ist das ein Widerspruch, aber in der Halle wird es trotzdem verstanden. Er beklagt eine Politik, die „immer neue Vorgaben, immer mehr Verbote“ macht. Es ist Laschets Warnung vor den Grünen, die aber die Tatsache übergeht, dass die Union mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) seit 16 Jahren genau für diese Verbote verantwortlich ist.
SPD-Mann Olaf Scholz nutzt das Schaulaufen der Kanzlerkandidaten, um auf Attacke zu schalten. Er geht Wirtschaftsminister Peter Altmaier stellvertretend für die CDU frontal an und wirft ihm eine „Stromlüge“ vor. Altmaiers Planungen für die Energiewende stimmten weder für den Ausbau der Stromerzeugung noch für die Stromtrassen. Und alles gehe viel zu langsam. „Lasst uns gemeinsam die Ärmel aufkrempeln. Es ist höchste Zeit“, erklärt Scholz.
FDP-Chef Christian Lindner ist beim Tag der Industrie stets gern gesehener Gast
Und dann ist da noch FDP-Chef Christian Lindner. Er ist ein stets gern gesehener Gast auf dem Tag der Industrie. Lindner bleibt bei seiner Linie. Die Wirtschaft müsse ins Zentrum gerückt werden und Klimaschutz sei ohne starke Firmen nicht finanzierbar. Lindner und Laschet trennt nicht viel. Am Freitag wollen sie vier Jahre schwarz-gelbe Koalition in Düsseldorf feiern. Laschet ist Koch, Lindner der Kellner.
Und die Industrie selbst? Dringend notwendige Richtungsentscheidungen seien bisher ausgeblieben, kritisierte der Präsident des BDI, Siegfried Russwurm. Der Staat aber müsse schneller werden, forderte Russwurm. Planungs- und Genehmigungsverfahren dauerten oft viele Jahre. In der öffentlichen Verwaltung gebe es „haarsträubende“ Defizite bei der Digitalisierung. Bei den öffentlichen Investitionen sei Deutschland unter den Schlusslichtern in Europa. Der Chef des Industrie- und Autozulieferers Schaeffler, Klaus Rosenfeld, sagt, im Ziel sei man sich einig: „Wichtig ist, dass wir jetzt vorankommen.“