Es ist kein gutes Zeugnis, das Almut Kirchner von der Prognos AG der Energiewende im Freistaat - und damit indirekt auch der Staatsregierung in München - ausstellt. Der Ausbau der erneuerbaren Energien hinkt dem Bedarf hinterher. "Nächstes Jahr werden wir nicht mehr auf dem Zielpfad sein", sagt Kirchner, schließlich habe man sich gerade schärfere Klimaziele gesetzt. Auch der Netzausbau schreite zu langsam voran. Und das "ganze Ausmaß des Elends" zeige sich bei der Raumwärme, wo Erdgas der vorherrschende Energieträger sei.
"Die energetische Sanierungsrate in Bayern ist mit 1,3 Prozent der Gebäude pro Jahr zu wenig, wir müssen auf das Doppelte kommen", sagt Kirchner, die bei Prognos den Bereich Energie- und Klimaschutzpolitik leitet und seit zehn Jahren die Energiewende im Freistaat untersucht. Trotzdem lägen die deutschen Industriestrompreise auf dem zweithöchsten Wert in der EU. "Nur Zypern und das Vereinigte Königreich sind teurer, das aber schon nicht mehr zur EU gehört."
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hatte nur einen Tag zuvor in Berlin ein ähnliches Bild skizziert und eine Verdreifachung des Ausbautempos für die erneuerbaren Energien angekündigt. Dafür kann er mit Rückenwind aus der bayerischen Industrie rechnen. "Anspruch und Wirklichkeit klaffen bei der Energiewende meilenweit auseinander", kritisierte Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, die die Prognos-Studie in Auftrag gegeben hat. Ankündigungen habe es genug gegeben. "Jetzt muss angepackt, in Angriff genommen und zugebaut werden!", fordert Brossardt. Dabei kann Habeck mit Unterstützung der bayerischen Industrie für seine umstrittenen Pläne zur Windkraft rechnen.
Brossardt: "10H-Regelung war ein Fehlschlag"
Um die Energiewende zu beschleunigen, dringt die bayerische Wirtschaft auf schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren. Dazu gehört in ihren Augen die Abschaffung der bayerischen 10H-Regel, wonach der Abstand eines Windrades zum nächsten Ort im Regelfall das Zehnfache der Windradhöhe betragen muss.
"Wir müssen leider feststellen, dass die 10H-Regelung ein Fehlschlag war, wir brauchen sie nicht mehr", sagte Brossardt. Kritikerinnen und Kritiker bemängeln seit langem, dass 10 H den Windkraftausbau im Freistaat ausbremst. Habeck hatte in Berlin angekündigt, gegen Abstandsregeln vorgehen zu wollen. In der CSU und der Staatsregierung in München ist er sofort auf erbitterten Widerstand gestoßen.
Aus Sicht der Wirtschaft gehört zur Energiewende aber Windkraft in Bayern hinzu. "Die Energiewende wird nicht ohne Zumutungen und Eingriffe in unser Landschaftsbild gelingen", sagt Wirtschaftsvertreter Brossardt. "Sichtbare Erfolge müssen sichtbar sein dürfen, zum Beispiel Windräder. Und wir können nicht sagen, wir machen alles in Oberfranken." Das gesamte Land müsse ausgebaut werden. Die Politik müsse die notwendige gesellschaftliche Akzeptanz schaffen.
Die Fachleute sehen zudem großen Nachholbedarf beim Netzausbau. "Bei der Versorgungssicherheit sind wir, was die Frage der Netze angeht, in einer sehr kritischen Bewertung", sagte Prognos-Forscherin Kirchner. Vor allem die großen Gleichstromtrassen von Nord nach Süd verzögern sich. Nach Druck gerade aus Bayern werden sie großteils unter der Erde verlegt.
"Was wir nicht mehr akzeptieren ist eine Debatte, dass wir die Stromleitungen nicht brauchen", kritisierte Brossardt. "Die Leitungen müssen her und es ist die Verantwortung des Staates, die Leitungen zu realisieren."
Lisa Badum, Grüne: "Eingeschlafene Energiewende in Bayern wachküssen"
Um zu günstigeren Strompreisen zu kommen, forderte Brossardt neben der mittlerweile von Habeck versprochenen Abschaffung der Ökostrom-Umlage auch die Absenkung der Stromsteuer auf ein zulässiges Minimum.
Dass Habecks Klimaplan in Bund der bayerischen Klimaschutzpolitik mehr Schwung geben könnte, darauf setzt auch Grünen-Bundestagspolitikerin Lisa Badum. "Der Bund kann die eingeschlafene Energiewende in Bayern wieder wachküssen", sagte sie unserer Redaktion.
"Bayern kann wieder zum Pionierland werden", meinte die Obfrau im Ausschuss für Klimaschutz und Energie der Grünen-Bundestagsfraktion. Die meisten Bürgerinnen und Bürger, die sich für die Energiewende engagieren, gebe es im bundesweiten Vergleich in Bayern. Die Politikerin aus Bamberg fordert ebenfalls, Hindernisse für die Windkraft zu beseitigen: "Für Verhinderungsplanung bei der Windenergie haben wir in Deutschland angesichts der fortschreitenden Klimakrise keine Zeit mehr."
IHK Schwaben: "Richtig, bei den erneuerbaren Energien den Booster zu zünden"
In der schwäbischen Wirtschaft begrüßt man Habecks Pläne zur Beschleunigung der Energiewende. "Es ist gut, dass mit dem Sofortprogramm des Bundeswirtschaftsministers neuer Schwung in die Klimapolitik kommt", sagt Nina Reitsam, Leiterin des Geschäftsfelds Industrie und Innovation an der Industrie- und Handelskammer Schwaben. "Die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien muss gerade nach der Abschaltung des Atomkraftwerks Gundremmingen zum Jahreswechsel schnell Fahrt aufnehmen", erklärt sie. "Deshalb ist es richtig, beim Ausbau erneuerbarer Energien den Booster zu zünden."
Entscheidend sei, betont die IHK-Expertin allerdings, dass die neuen Ziele auch zu "konkret umsetzbaren Maßnahmen" führen und dass die Unternehmen genügend bezahlbaren und zugleich sicheren grünen Strom haben. "Die Wettbewerbsfähigkeit der regionalen Wirtschaft darf auf ihrem Weg zur Klimaneutralität nicht durch zu hohe Energiepreise Schaden nehmen", sagt Reitsam. "Das gilt in besonderem Maße für die energieintensive Industrie, die noch immer der Jobmotor Bayerisch-Schwabens ist."
Gibt es im Handwerk überhaupt genug Fachkräfte für den Solar-Ausbau?
Im Handwerk begrüßt man Habecks Klima-Pakete, hat aber große Zweifel, ob überhaupt genug Fachkräfte vorhanden sind, um sie umzusetzen. "Für das Handwerk bedeuten diese Pläne ein enormes Auftragspotenzial, hier wird ein riesen Rad gedreht", sagt Ulrich Wagner, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer für Schwaben. In Schwaben hätte etwa die Hälfte der 30.000 Handwerksbetriebe mit Klima- und Nachhaltigkeitsthemen zu tun.
"Wenn sich aber die Fachkräftesituation im Handwerk nicht bessert, dann können diese Maßnahmen nicht wie geplant umgesetzt und die Klimaziele nicht erreicht werden", warnt Wagner. "Es braucht nicht nur ein Sofortprogramm Klimaschutz, sondern auch ein Sofortprogramm Fachkräftesicherung", sagt er.
Auch fehlendes Material könne zum Problem werden, zum Beispiel für neue Photovoltaikanlagen. "Die Lieferketten funktionieren noch immer nicht reibungslos", sagt Wagner. "Es braucht zum Beispiel hohe Stückzahlen von Solarpanels, um die gesetzlich vorgesehene Ausstattung der neuen Gewerbeimmobilien auch stemmen zu können", erklärt er.
Hören Sie sich dazu auch unsere Podcast-Serie "Gespalten – Gundremmingen und das Ende der Atomkraft" an.