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Kommentar: Noch mehr arbeiten - geht‘s noch, Herr Merz?

Kommentar

Noch mehr arbeiten – geht‘s noch, Herr Merz?

Christina Heller-Beschnitt
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    Viele Frauen würden gerne mehr arbeiten, aber nicht in Vollzeit. Denn sie kümmern sich in ihrer „Freizeit“ um zu viele andere, wichtige Dinge.
    Viele Frauen würden gerne mehr arbeiten, aber nicht in Vollzeit. Denn sie kümmern sich in ihrer „Freizeit“ um zu viele andere, wichtige Dinge. Foto: Annette Riedl, dpa (Symbolbild)

    In seiner ersten Regierungserklärung hat Kanzler Friedrich Merz zwei neue Problemthemen ausgemacht: die Work-Life-Balance und die Vier-Tage-Woche. Seither diskutiert das Land, ob die Deutschen faul geworden seien. Viele geben Merz recht: Der Arbeitsethos sei auf der Strecke geblieben. Dabei ist Merz Ansatz nicht nur einseitig, sondern auch gefährlich. Weil zwei entscheidende Dinge in der Debatte zu kurz kommen.

    Das Erste: Merz befeuert den Generationenkonflikt. Er impliziert, vor allem die Jüngeren wollen nicht anpacken. Denn die jungen Menschen fordern Arbeitsmodelle wie die Vier-Tage-Woche ein und haben, indem sie auf einen Ausgleich zwischen Leben und Arbeit beharren, den Begriff Work-Life-Balance geprägt. Der fast 70-jährige Kanzler nutzt also seine erste Rede vor dem Bundestag, um auf den Jungen herumzuhacken.

    Debatte um faule Deutsche: Auch Babyboomer könnten länger arbeiten

    Genauso leicht ließe sich dabei fragen: Was ist denn mit Merz‘ Altersgenossen, den Babyboomern? Dass sie sich in den Ruhestand verabschieden, hinterlässt eine riesige Fachkräfte- und Kompetenzlücke, die mit Jüngeren nicht aufgefüllt werden kann. Auch das schadet der Wertschöpfung. Und die Babyboomer setzen sich im Schnitt zwei Jahre, bevor sie das eigentliche Renteneintrittsalter erreichen, zur Ruhe. Vor allem Gutverdiener und Akademiker nutzen übrigens diese Möglichkeit. Obwohl die Lebenserwartung deutlich gestiegen ist und die Menschen – erfreulicherweise – länger, gesünder, älter werden. Wer packt die Älteren bei ihrer Ehre, appelliert an ihre Landesverantwortung und ruft: „Mit Frühruhestand werden wir den Wohlstand in unserem Land nicht erhalten können!“ Eine Diskussion über eine Rente mit 70 lehnt Merz nämlich ab.

    Abgesehen davon, dass ein Ausspielen der Generationen dem Land wenig nutzt und Fronten schafft, übersieht Merz einen Punkt: Das Aufstiegsversprechen gilt nicht mehr. Für viele junge Menschen ist der Wohlstandstraum ihrer Eltern – ein Eigenheim mit Garten etwa – unerfüllbar. Warum also sollten sie ihre Zeit mit mehr Arbeit füllen, statt mit den Dingen, die das Leben schöner machen: Freizeit, Familie, Freunde? Zumal sich die Mehrarbeit in vielen Fällen finanziell nicht lohnt, weil die kalte Progression alles auffrisst.

    Der zweite Punkt, der in der Debatte übersehen wird: Von Mehrarbeit als Wohlstandsbringer zu sprechen, offenbart eine privilegierte, männliche Sicht auf die Welt. Beginnen wir mit dem privilegierten Teil: Die Zahl der Menschen mit zwei Jobs hat sich seit den 90er Jahren verdoppelt. Viele würden anders nicht über die Runden kommen. Sollen sie sich einen dritten Job suchen?

    Und der männliche Teil der Weltsicht? In der Diskussion um die vermeintliche Faulheit der Deutschen wird gerne eine Statistik des Instituts für Arbeits- und Berufsforschung zitiert. Sie zeigt, dass im Land zwar so viele Menschen arbeiten wie nie, aber die Zahl der Wochenarbeitsstunden pro Arbeitnehmer gesunken ist. Das liegt daran, dass viele Frauen in den Arbeitsmarkt eingestiegen sind. Und sie arbeiten häufig in Teilzeit. Dann heißt es, dort schlummere ein ungenutztes Potenzial. Ach wirklich?

    Debatte um Arbeitszeit: Die Gesellschaft brauch Menschen, die Zeit haben

    Zwar geben viele Teilzeitbeschäftigte an, ihre Stunden aufstocken zu wollen. Aber meist nicht auf Vollzeit. Das ginge nur, wenn Männer kürzer arbeiten. Wer soll sich sonst um die neue Pflegestufe der Oma, die Hausaufgaben der Kinder, den Kuchen fürs Kindergartenfest und die dreckige Wäsche kümmern? Meist machen Frauen das im „Life“-Teil ihrer Work-Life-Balance. Klingt schon gar nicht mehr nach Faulsein. Dazu sind die Gesellschaft, die Kinder, das Ehrenamt, darauf angewiesen, dass Menschen Zeit zur Verfügung haben. Sich kümmern können.

    Merz fordert auch, alle sollten wieder effektiver arbeiten. Das ist sinnvoll. Und jetzt etwas wirklich Überraschendes: Es gibt Untersuchungen dazu, was Effektivität wachsen lässt: die Vier-Tage-Woche. Untersuchungen in verschiedenen Ländern haben gezeigt, dass Unternehmen, die sie einführten, meist genauso viel, oder gar mehr Umsatz machten wie davor.

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    8 Kommentare
    Peter Pfleiderer

    >> Wer packt die Älteren bei ihrer Ehre, appelliert an ihre Landesverantwortung... << - "Landesverantwortung" was immer das auch genau sein mag in einem Land wo straffrei "Deutschland verrecke" gerufen werden darf. Ja könnt ihr haben ;-)

    Dirk Thum

    Guter Kommentar. In Anbetracht der Tatsache, dass im letzten Jahr noch nie so viele Erwerbtätige so viele Arbeitsstunden und Überstunden wie noch nie leisteten, ist der Faulheitsvorwurf blanker Hohn. Hier sind die gefragt, die am lautesten Jammern: Politiker und Vorstände. Bessere Betreuungsmöglichkeiten, öffentlich wie betrieblich, ein Steuersystem, dass Mehrarbeit gerade bei mittleren und niedrigen Einkommen belohnt, Verlängerung der Lebensarbeitszeit und Einschränkung der Frühverrentung auf körperlich anstrengende Berufe etc. Dass die Produktivität abgenommen hat, hängt wesentlich mit der seit 20 Jahren zu geringen Investitionstätigkeit der Unternehmer zusammen. Dazu kommt ein Festklammern an alten Geschäftsmodellen. Auch die verbreitete Rückkehr ins Büro führt nur dazu, dass die betreuenden Eltern durch die Pendelzeit weniger Arbeiten können, s. Betreuungsmisere. Es gibt genug zu tun, die Beschimpfung der arbeitenden Bevölkerung gehört nicht dazu.

    Raimund Kamm

    Meiner Meinung nach ein außerordentlich kluger Kommentar! Einen Aspekt gegen die Parole von Herrn Merz möchte ich hinzufügen: Wenn sich Menschen entscheiden, weniger zu arbeiten und weniger zu verdienen und weniger zu konsumieren und dafür mehr Zeit für Partner*innen, Kinder … haben, entscheiden sie gut.

    Hansjörg Nowak

    Eine gute Beschreibung der Ist-Situation. Es ist jedoch eine bequeme und in den letzten bekannte journalistische Praxis. Aus den im internationalen Vergleich bestehendem Defiziten Schlüsse zu ziehen? Fehlanzeige! Da müsste man ja über unangenehme Wahrheiten schreiben. Bei den Kosten sind wir in praktischen allen Bereichen Spitzenreiter. Die höchsten Löhne und geringe Jahresarbeitenszeiten, Steuer- u. Abgabenlast, Energiekosten ... Wir können ja gerne so weitermachen. Dann wird es jedoch in Zukunft den aktuellen Wohlstand nicht mehr geben. Es wäre endlich Zeit mal in vielen Bereichen grundlegend Kosten einzusparen. Ein effizienter Staatsapparat, eine Krankenkasse (für zusätzliche Features kann es dann eine Zusatzversicherung sein) und vieles mehr. So würden Unternehmen und Mitarbeiter unter dem Strich mehr haben. Die Zeiten eines Luxussozialsystems u.a. Bereichen sind längst vorbei. Nur will dies kein Politiker dem Volk klarmachen. Die Zeit für Träumereien ist vorbei.

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    Gerold Rainer

    Es ist für Politiker schwierig, dem Volk das Ende des Luxussozialsystems klarzumachen ohne selbst mit gutem Beispiel voranzugehen. Ich wäre für ein einheitliches Ruhegeld, das alleine von der geleisteten Arbeitszeit abhängt und genau berechnet wird. Erziehungszeiten werden brücksichtigt. Alles darüber hinaus ist private Vorsorge.

    Gerold Rainer

    Wer eine Führungsposition hat und seine Lebenszeit gegen sehr viel Geld verkauft, darf auch gerne bis ins hohe Alter motiviert arbeiten. Ich würde den Arbeitsethos von Herrn Merz auf die Probe stellen: Nach jeder Bundestagssitzung darf er im Saal Staub saugen, zum gesetzlichen Mindestlohn versteht sich.

    Doris Wiedemann

    Vielen Dank! Sie sprechen mir mit so vielem aus der Seele!

    Franz Wagner

    Das die 4 Tage Woche die Lösung aller Probleme sein soll wage ich zu bezweifeln. Es muss wieder mehr gearbeitet werden. Aber das muss sich auch finanziell lohnen!

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